Konditionstest Wer träumt nicht davon, den Kursschwankungen einmal ihre Grenzen aufzuzeigen? Oder zumindest ein Maß dafür zu haben, an welche Schwankungen man sich "normalerweise" zu gewöhnen hat? Die Antwort auf diese Fragestellung liefern die so genannten Kursumhüllungskurven (Envelopes). Zu den bekanntesten “Envelopes” gehören die Bollinger Bands, genannt nach ihrem Erfinder John Bollinger. Sie sind "selbstadjustierend" und geben ein verlässliches Maß dafür, welcher prozentuale Anteil aller Preisdaten (Kurse) sich innerhalb der Bänder abspielen wird. Bollinger Bands liefern daneben konkrete Handelsregeln und funktionieren schon in ihrer Standardeinstellung (ohne Optimierung der Eingabeparameter) verblüffend gut.
Je stärker eine Aktie dazu neigt, im Kurs zu schwanken (hohe Volatilität), desto besser eignet sie sich für das Trading, d. h. für den ständigen Versuch, diesen Titel "oben zu verkaufen" und "unten wieder zurückzukaufen". Der gerade an diesen volatileren Aktien interessierte Investor muss also ein Gespür – besser noch konkrete, statistisch nachweisbare Anhaltspunkte – dafür entwickeln, ob der aktuelle Aufenthaltsort des Aktienkurses eher "oben" oder "unten" anzusiedeln ist.
Solche Anhaltspunkte liefern Kursumhüllungskurven, die in festen, prozentual festgelegten Abständen um einen gleitenden Durchschnitt der Aktie herum abgetragen werden. Dort wird zum Beispiel 15 Prozent unterhalb des gleitenden Kursdurchschnitts jeweils die Untergrenze der Kursumhüllungskurve eingezeichnet und 15 Prozent oberhalb des Kursdurchschnitts die Obergrenze. Dieses "Konzept der groben Anhaltspunkte", bei dem Ausbrüche aus den Umhüllungskurven nicht selten sind, lässt sich verfeinern.
Die von John Bollinger entwickelten "Bollinger Bands" (BB) nutzen dabei statistische Erkenntnisse, um jeder Aktie eine individuelle Kursumhüllungskurve zuzuweisen. Ausgehend von der Standardeinstellung eines 20-Tage-Durchschnitts des Aktienkurses wird das untere Bollinger Band im Abstand von zwei Standardabweichungen (statistisches Maß für Abweichungen um einen Mittelwert und Ausdruck für Volatilität) unter dem gleitenden Durchschnitt abgetragen, das obere Bollinger Band zwei Standardabweichungen (SA) darüber. Ausgehend von der statistischen Normalverteilungsfunktion ist damit gewährleistet, dass bei Auswahl von je zwei SA als oberer und unterer Abstand zur Durchschnittskurve 95,4 Prozent (!) aller Kurse innerhalb der Umhüllungskurve liegen (bei je einer SA wären es 68,2 Prozent, bei je drei SA 99,7 Prozent aller Preisdaten). Das Chartbild von Amazon.com (BB mit zwei SA) zeigt, wie selten Ausreißer bei dieser stark schwankenden Aktie sind.
Bezüglich der Standortbestimmung und der Suche nach möglichen Umkehrpunkten ist der Technische Analyst damit einen bedeutenden Schritt weiter. Aber erst der Blick auf das BB selbst, dessen Lage, Steigung (Richtung) und vor allem dessen Ausdehnung oder Kontraktion (durch zunehmende und abnehmende Volatilitäten bedingt) produziert die Handelsregeln für eine Positionierung in der jeweiligen Aktie.
Die Hauptaussagen und Handelsregeln der Bollinger-Band-Analyse sind:
- Standortbestimmung: Sind die Kurse auf einer relativen Basis hoch oder niedrig?
- Enge, zusammengezogene Bänder visualisieren Perioden geringer Volatilität (hilfreich für die Bewertung von Optionen und Optionsscheinen)
- Nach einer Einengung (Kontraktion) der Bänder treten oft schnelle, markante Preis- änderungen auf
- Ausbrüche aus den BB-Grenzen deuten auf eine Etablierung eines starken Trendmarktes hin und sollten (mit anderen Indikatoren) überprüft werden. Oft setzt der Trend sich dann fort.
- "Normal" ist: Preisbewegungen, die an einem Ende des BB beginnen, setzen sich bis zum anderen Ende fort (manchmal mit Verzögerungen um den gleitenden Durchschnitt herum).
- Im Aufwärtstrend "umarmen" die Kurse längere Zeit das obere Ende des BB und umgekehrt
- Große Wendepunkte im Markt vollziehen sich sehr oft auch an den Extremen des BB, selten in dessen Mitte.
Abbildung 2 zeigt, wie der Aktienkurs von America Online (AOL) innerhalb seines Standard-BB mit 20-Tage-Durchschnitt und je zwei SA Abstand "sehr folgsam" der Normalregel gehorchte. Preisbewegungen, die am unteren Ende A begannen, vollzogen sich oft bis zum oberen Ende B und umgekehrt. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Aber: Bitte beachten Sie, dass ein Handelssystem bereits mit einer Trefferquote über 50 Prozent bei angemessenem Money Management dauerhaft profitabel sein kann. Und natürlich lassen sich die BB-Signale noch mit anderen technischen Indikatoren kombinieren, um die Trefferwahrscheinlichkeit weiter zu erhöhen (Bollinger selbst präferiert dabei die Overbought/Oversold-Signale des RSI). Der Chart von Yahoo (Abbildung 3) lieferte im vergangenen Jahr in der mit A-U-F-W-Ä-R-T-S kenntlich gemachten Situation ein schönes Beispiel für die "Umarmung" des oberen BB in einem längere Zeit intakten Aufwärtstrend. Nach dem Höchststand bei 250,12 Dollar setzte dann das normale "Up-and-down"-Spielchen (von der oberen BB-Grenze zur unteren und umgekehrt) wieder ein.
Das vermeintlich wichtigste Signal liefert jedoch die (empirisch ermittelte) Erkenntnis, dass stärkere Preisbewegungen meist nach einer ruhigen Marktphase mit abnehmender Volatilität auftreten. Oft folgt gerade einer längeren, volatilitätsarmen Phase ein echter Ausbruch. Die BB visualisieren diese Phasen geringer bzw. abnehmender Volatilität besonders gut. In der Standardeinstellung von John Bollinger mit je zwei SA Abstand zum gleitenden Durchschnitt wirkt sich jede Volatilitätsänderung gleich vierfach auf die Weite des Bandes aus. Volatilitätsarme Phasen (Verengungen des Bandes) sind demnach konstruktionsbedingt kaum zu übersehen. Im Chartbeispiel von Apple Comp. (Abbildung 4) etwa in den Situationen A und B.
Im Fazit bleibt festzuhalten, dass die Handelsregeln der BB in der angebenen Standardeinstellung interessante, chancenreiche Signale liefern können. Mit den BB hat man einen technischen Indikator, den man nicht stets und ständig und für jeden Titel optimieren und nachadjustieren muss.
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