FRANKFURT (Dow Jones)--Nach der deutlichen Leitzinssenkung in der vergangenen Woche und angesichts der Anzeichen für eine weitere Eintrübung der Konjunkturlage in der Eurozone haben Mitglieder des Rats der Europäischen Zentralbank (EZB) in den vergangenen Tagen uneinheitliche Einschätzungen zum weiteren Zinskurs gegeben.
Dabei stehen den bekannten zinspolitischen "Falken" wie Direktoriumsmitglied Jürgen Stark und Luxemburgs Notenbankchef Yves Mersch geldpolitische "Tauben" wie der Niederländer Nout Wellink und der Franzosen Christian Noyer gegenüber. Der Gouverneur der Banque de France sagte der Tageszeitung "Le Figaro", die EZB werde ihre Zinsen in Abhängigkeit von den ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmen. Diese bezeichnete Noyer als "deutlich negativ".
Der Gouverneur der niederländischen Zentralbank, Nout Wellink, sagte der Nachrichtenagentur Market News, der Rückgang der Rohstoffpreise werde die Inflation im gemeinsamen Währungsraum auf ein akzeptables Niveau bringen, was der EZB weitere Freiheit für Reaktionen auf das gebe, was in der Wirtschaft passiere.
Aber auch das zyprische EZB-Ratsmitglied Athanasios Orphanides betonte am Montag bei einer Anhörung vor dem zyprischen Parlament, da sich die Inflation abgeschwächt habe und weiter sinken werde, gebe es noch "großen Spielraum" für die Geldpolitik.
Die EZB hat ihren Leitzins seit Oktober um insgesamt 175 Basispunkte auf 2,50% reduziert. Beobachter erwarten nach sehr schwachen Daten zur Industrieproduktion in den größten Volkswirtschaften der Eurozone, dass die Notenbank schon im Januar "nachlegen" wird. Diese Erwartungen versuchten zuletzt einige EZB-Offizielle zu bremsen.
So sagte EZB-Direktoriumsmitglied Jürgen Stark am Mittwochabend, nach den jüngsten substanziellen Zinssenkungen sei der verbleibende Spielraum begrenzt und erlaube nur noch kleine Schritte. Zudem dürften neue Informationen für die Eurozone, die eine seriöse Neubeurteilung der Aussichten für die Preisstabilität ermöglichen, sehr wahrscheinlich nicht vor Februar oder März 2009 verfügbar sein. Bankökonomen gehen gleichwohl überwiegend davon aus, dass die EZB die Zinsschraube schon im Januar weiter lockern wird.
So verwies Holger Schmieding, Europa-Chefvolkswirt bei der Bank of America, auf die weiter eingetrübten Konjunkturaussichten. Die jüngsten Wachstumsprojektionen der EZB seien schon bei ihrer Veröffentlichung Anfang Dezember zu optimistisch gewesen, der jetzt bekannt gewordene Einbruch der Industrieproduktion werde eine Diskussion über weitere Zinssenkungen bringen, prophezeite Schmieding.
Auch Commerzbank-Volkswirt Michael Schubert erwartet weitere EZB-Zinssenkungen. Allerdings sieht er nach den Äußerungen von Direktoriumsmitglied Stark ein erhöhtes Risiko dafür, dass der nächste Zinsschritt nur 25 Basispunkte groß sein wird oder sogar ganz ausfallen könnte.
Angesichts des Stimmengewirrs im EZB-Rat dürfte die Stimme von EZB-Präsident Jean-Claude Trichet derzeit ein noch höheres Gewicht haben als sonst. Trichet hatte am Donnerstag vergangener Woche nach der Zinsentscheidung gesagt, er könne keinen Hinweis auf die Zinsentscheidung im Januar geben. Allerdings deuten Äußerungen aus einem am Dienstag gesendeten BBC-Interview darauf hin, dass er zunächst keine Notwendigkeit für weitere Zinssenkungen sieht.
"Wir haben die Zinsen in einer sehr kurzen Zeitspanne um 175 Basispunkte gesenkt und müssen nun dafür sorgen, dass diese niedrigeren Zinsen auch auf die Marktzinsen, auf den Interbankenmarkt und die Realwirtschaft übertragen werden", sagte er dem Sender auf die Frage nach weiteren Zinsschritten. "Das ist sehr wichtig und wir werden unsere Bemühungen hierauf konzentrieren", fügte er hinzu.
Manche Beobachter erwarten, dass die EZB zu diesem Zweck die Verzinsung ihrer Einlagenfazilität reduzieren wird, einige fordern sogar Strafzinsen für die Nutzung dieser Fazilität. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die Banken des Euroraums die ihnen von der EZB reichlich zur Verfügung gestellte Liquidität endlich in den Interbankenmarkt fließen lassen, statt wieder bei der EZB anzulegen. Sympathien für solche Gedanken kamen in den vergangenen Tagen mehrfach vom österreichischen Ratsmitglied Ewald Nowotny.
BdF-Gouverneur Noyer plädierte allerdings dafür, den Banken noch mehr Zeit zu geben. Zunächst müssten diese ihre Jahresabschlüsse machen, erst anschließend könnten sich die Ausleihsätze am Geldmarkt nach und nach normalisieren, sagte er "Le Figaro".
In Deutschland wird dagegen erwogen, das mangelnde Vertrauen der Banken untereinander durch die Zwischenschaltung einer staatlich garantierten Clearing-Stelle zu überbrücken. Erste Hinweise darauf, welche Lösung die EZB bevorzugt, könnte bereits der am kommenden Montag anstehende Finanzstabilitätsbericht der EZB bringen. |