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Politik für die Unterschicht Notwendige politische Diskussion neuer Wege
Ist dies nur ein Medienthema wie viele andere zuvor? Oder steckt in der Aufregung über die "Unterschicht" mehr - das Bewusstsein, dass sich die deutsche Gesellschaft verändert und die Politik darauf reagieren muss?
Begriffe machen schnell Karriere - in der Politik und in den Medien. Und ebenso schnell sind sie wieder vergessen. Es spricht einiges dafür, dass dies mit der Diskussion über die "Unterschicht" nicht so gehen wird, sondern dass hier ein Einschnitt in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik markiert wird. Amerikanische Wohlfahrtskarrieren
Die Diskussion erinnert mich an die USA Anfang der 90er Jahre. Damals war ich Korrespondent in Washington und Bill Clinton, der junge demokratische Präsidentschaftskandidat aus dem Süden, provozierte die eigene Partei mit der These, das amerikanische Wohlfahrtssystem habe regelrechte Wohlfahrtskarrieren hervorgebracht, Familien bis in die zweite oder dritte Generation in einer Wohlfahrtskultur geradezu gefangen gehalten.
Mit dem guten Willen, niemanden fallen zu lassen, beraube der Staat seine Bürger ihrer Verantwortung und Initiative. Eine These, wie sie aus deutscher Perspektive kaum kaltherziger, "konservativer" hätte formuliert werden können! "White Trash"
An ein zweites, böses Wort erinnere ich mich aus meiner amerikanischen Erfahrung. Vor etwa 15 Jahren ist der Begriff "White Trash" in Mode gekommen - eine geradezu aggressive Bezeichnung für die weiße Gesellschaftsschicht, für die es in der amerikanischen Gesellschaft keine Verwendung mehr gab und die - besonders in vom Strukturwandel betroffenen alten Industrie-Regionen wie West-Virgina oder Pensylvania - ihr Leben in Trailerparks außerhalb der Städte fristeten, mit zuviel Fernsehen und Junk-Food.
"Weiße Unterschicht" - freundlich übersetzt, und damals übrigens bewusst in Gegensatz zu den ehrgeizigen Aufsteiger-Familien hispanischer oder asiatischer Herkunft gebraucht, die alles daran setzten, ihre Chance in den USA zu finden. Hoffnungslose Zukunft
Seien wir ehrlich: Ähnliche Phänomene gibt es heute auch bei uns - und das Privatfernsehen beutet sie regelrecht aus. So machen sich mittlerweile auch Politiker der SPD oder der Grünen Gedanken, ob milliardenschwere Sozialtransfers Menschen eigentlich zu Veränderung befähigen oder eher ruhig stellen - und die Gesellschaft in der Illusion wiegen, alles sei in Ordnung.
Menschen, die mit sich nichts mehr anzufangen wissen, die für sich und ihre Kinder keine Zukunft mehr sehen, in Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit stürzen, in Apathie und gelegentlich in dumpfe Gewalt (wie bei den schrecklichen Verbrechen gegen eigene Kinder), gibt es in beachtlicher Zahl auch hier. Früher bewegten sie sich am unteren Rand der Mittelschicht, heute fühlen sie sich "unten" - selbst wenn Politiker den Begriff nicht mögen. Aber Politik fängt gerade dort an, wo die Wirklichkeit zur Kenntnis genommen wird.
USA: Nahezu Vollbeschäftigung
Auch in Amerika hatte sich Anfang der neunziger Jahre Zukunftsangst breit gemacht. Es wurde darüber diskutiert, dass die heranwachsende Generation die erste sein würde, die ihren "amerikanischen Traum" - also die Gewissheit, es einmal besser zu haben als die Eltern - nicht mehr würde leben können. Ähnlich wie unsere "Generation Praktikum" gab es damals auch für qualifizierte Berufsanfänger in den USA wenig Chancen, in den Arbeitsmarkt einzusteigen.
Doch plötzlich drehte sich das Blatt. Clinton reduzierte die Staatsdefizite kräftig, der Job-Motor sprang an und der Internet-Boom half dann kräftig mit, die amerikanische Wirtschaft wieder anzutreiben. Heute herrscht in den USA nahezu Vollbeschäftigung - und das heißt bei einer steigenden Bevölkerung eine real wachsende Millionen-Zahl neuer Jobs. Flexibler Arbeitsmarkt
Was können wir davon lernen? Ist das amerikanische Modell dem europäischen doch überlegen? Müssen wir uns auch an "hire and fire" und Rentner gewöhnen, die an der Supermarktkasse als Einpackhilfen ihre Pension aufbessern? So schwarz-weiß wie das US-Modell dargestellt wird, ist es in Wirklichkeit nicht. Wahr ist: Es gibt viele billige Jobs. Der Mindestlohn beträgt im Moment 5,15 Dollar, umgerechnet etwa 4,15 Euro. Davon allein kann man kaum leben und es führt dazu, dass Millionen zwei Jobs brauchen, um zu überleben.
Aber: Es gibt Jobs! Und die Statistik zeigt, dass auf einem ungeheuer flexiblen Arbeitsmarkt viele Möglichkeiten für beruflichen Aufstieg bestehen. Und wahr ist übrigens auch, dass großer gewerkschaftlicher Einfluss viele Arbeitnehmer schützt - Angehörige von Minderheiten, Frauen über 40 Jahre und Männer über 50 Jahre. Der Boom auf dem Arbeitsmarkt führt, wie mir gerade ein deutscher Manager mit jahrelanger USA-Erfahrung berichtet hat, dazu, dass es keine wichtigere Aufgabe gibt, als Talente zu entdecken und ans eigene Unternehmen zu binden. Schlechte Zukunftsaussichten
Das "deutsche Modell" sorgt zwar für eine Absicherung nach unten und einen (jetzt "prekär" gewordenen) sozialen Frieden, privilegiert aber vor allem die, die Arbeit haben, gegenüber denen, die keine haben. Wer erst einmal im Arbeitsmarkt drin ist, dem geht es besser als dem, der in Amerika "ganz unten" arbeitet. Aber wer draußen ist, der hat kaum eine Chance, dem Schicksal Arbeitslosigkeit dauerhaft zu entkommen.
Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Diskussion ausgelöst hat, benutzt das Wort "Unterschicht" gar nicht, sondern spricht von einem "Prekariat": Menschen, die arbeitslos, schlecht ausgebildet, eventuell alleinerziehend, chronisch krank sind - und deshalb schlechte Zukunftsaussichten haben.
Prekariat und Passivität
"Prekariat" klingt nach "Proletariat" - aber der wesentliche Unterschied ist: Die "Proletarier" hatten ein gemeinsames Bewusstsein ihrer Situation, trotz der elenden Bedingungen, unter denen sie arbeiten mussten. Als Arbeitskräfte waren sie notwendig und daraus konnten sie eine politische Kraft formen, die dem Kapital Zugeständnisse abtrotzte und die Gesellschaft veränderte.
Dieser Wille und die Fähigkeit zur Solidarität fehlt dem "Prekariat", das zur Passivität wie gezwungen erscheint und keine politische Gestaltungskraft hat. Gesellschaftlich wirksam sind die "Prekarier" dennoch: In niedriger Wahlbeteiligung, (rechts-)extremen Ausschlägen oder soziokulturell, wie die Dominanz von "Glatzen" auf manchem ost-deutschen Marktplatz zeigt. Und ein Stück "Prekarität" ist als Angst um die eigene Zukunft bis in die Mittelschicht vorgedrungen - und etwa in den Sorgen der Gutverdienenden um die Zukunft ihrer Kinder sichtbar. Veränderung der Gesellschaft
Es hat keinen Sinn eine Wirklichkeit zu leugnen. Es hat keinen Sinn, nicht anzuerkennen, dass Milliardentransfers viele Mitbürger nur versorgen, aber zu nichts befähigen. Es hat keinen Sinn, über Begriffe zu streiten und parteipolitische Schuldzuweisungen anzustellen. Die Frage ist: Anerkennen wir die Veränderung der Gesellschaft? Ziehen wir Konsequenzen daraus, dass nur Arbeit Sicherheit und Selbstbewusstsein schafft (nicht nur materiell, sondern vor allem psychisch)? Welche Instrumente gibt es, mehr Menschen wieder Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen? Kurt Beck, Angela Merkel und Edmund Stoiber bei der
Deshalb müssen wir über Kündigungsschutz, Mindestlöhne, staatliche Arbeitsmarktpolitik diskutieren und entscheiden - und auch darüber, ob ein sparsamer Staat nicht die besten Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum - und damit Jobs - schafft. All dies ist mit der Diskussion um die Unterschicht notwendig geworden, auch wenn es den Frieden in der Großen Koalition stört.
Zu viel Bürokratie?
Übrigens: Der diesjährige Friedensnobelpreisträger Yunus ist für die Idee ausgezeichnet worden, Menschen, meist Frauen, auf dem indischen Subkontinent mit Kleinstkrediten selbständig zu machen und sie so wirtschaftlich zu integrieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein verriegelter Arbeitsmarkt und vielerlei bürokratische Vorschriften den Armen hierzulande nicht einmal die Möglichkeit gibt, aus dem (nach Hartz lV oft sparsam genug bemessenen) Geld vom Staat etwas zu machen. |