Heute vor 50 Jahren geriet der Atomreaktor im englischen Windscale (heute Sellafield) in Brand. Dieser Unfall gleicht in vielen Details der Katastrophe von Tschernobyl:
- Der Reaktortyp (graphitmoderiert und luftgekühlt (Windscale) bzw. dampfgekühlt (Tschernobyl)) war sehr ähnlich
- Die Ursache des Unfalls (der Reaktor wurde in einem unzulässigen Leistungsbereich gefahren) war die gleiche
- In beiden Fällen geriet der Graphitblock in Brand
- In Tschernobyl kam es zu einer Explosion wegen der chemischen Reaktion mit dem Kühlmittel Wasserdampf; in Windscale wäre es beinahe zur Explosion gekommen, als die Mannschaft versuchte, den Graphitbrand mit Wasser zu löschen
- In beiden Fällen wurde der Unfall zunächst zu vertuschen versucht und dann verharmlost
- Beide Reaktoren sind bis heute unter einem großen Betonmantel versiegelt.
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Nukleare Dreckschleuder
Vor 50 Jahren kam es im britischen Sellafield zum weltweit ersten großen Atomunfall
VON PETER NONNENMACHER
London. Vor fünfzig Jahren brannte der Reaktor der nordwestenglischen Plutoniumschmiede Windscale. Die Welt erlebte den ersten großen Atomunfall.
Zwei Tage lang wütete auf dem Gelände ein Feuer, dessen Spätfolgen Hunderten Menschen das Leben gekostet haben soll. Zwei Tage lang kämpften die in der Krisenbewältigung völlig unerfahrenen Beschäftigten des Werks, um eine Totalexplosion zu verhindern. Und erst jetzt wagt man sich daran, die strahlende Erbschaft zu entsiegeln. Bis vor kurzem präsentierte sich der Unglücksreaktor noch als gigantischer Betonsarg, in dem es weiter rumorte. Dabei war das Gelände längst zu einer hochmodernen Aufarbeitungsstätte gewachsen und in Sellafield umbenannt worden.
Der Brand ließ einen 2000 Tonnen schweren Graphitmoderator mit mindestens 15 Tonnen an beschädigten Brennstäben, verstrahltem Staub, Resten gelben Urans, geschmolzenem Aluminium und radioaktivem Schlamm zurück. Beim Routineprozess des Wärmeabtauschs im Reaktor war es zu einem sprunghaften Temperaturanstieg gekommen. Dann wurde auf dem Werkshof eine gefährlich hohe Radioaktivität gemessen. Die Mitarbeiter wussten nicht, ob sie mit Wasser löschen durften oder ob sie damit eine Explosion auslösen würden, und so konnten sie nicht verhindern, dass zwei radioaktive Dampfwolken entwichen und sich bis weit über Nordeuropa ausbreiteten. Die Arbeiter, die ihr Leben riskiert hatten, wurden später beschuldigt, durch "Fehleinschätzungen" den Unfall verursacht zu haben.
In Wirklichkeit hatte es in einem übereilten Atomprogramm und beim überstürzten Reaktorbau Fehler gegeben. In weniger als drei Jahren war Windscale Pile One erstellt worden. Im Februar 1952 lieferte das Werk bereits Plutonium. Im Oktober desselben Jahres erprobten britische Militärs eine neue Bombe. Deshalb die Eile. Warnungen, die es schon früh gab, wurden ignoriert. Und als die Katastrophe eingetreten war, wurde die Bevölkerung erst alarmiert, als der Unfall praktisch schon vorbei, die erste Wolke schon übers Land gezogen war. Millionen Liter kontaminierter Milch wurden verkauft, obwohl man von der Verseuchung wusste. Entsprechende Dokumente blieben streng geheim.
Die Umweltorganisation Greenpeace sieht aktuelle Parallelen: Der Bau Windscales sei überstürzt erfolgt, "und die aktuellen Regierungspläne für neue Reaktoren in unserem Land sind ebenso übereilt, wie sie es damals waren".
Unfallchronik Windscale
Im Oktober 1957 wurde der Reaktor Windscale - später in Sellafield umbenannt - in einem nicht erlaubten Leistungsbereich gefahren und fing Feuer. Tagelang brannte der Graphitmoderator, der radioaktive Rauch konnte nicht ausgefiltert werden. 150 Brennstäbe blieben in der Ruine. Beim Fluten des Reaktors mit Wasser kam es nur durch glückliche Umstände nicht zu der befürchteten Knallgasexplosion. Zwanzig Jahre später, 1973, wurde ein Teil der Anlage bei einem weiteren schweren Zwischenfall radioaktiv verstrahlt. Nach dem schweren Unglück von 1957 und dem Unfall von 1973 kam es 2005 in Sellafield zu einem weiteren schweren Störfall. Erst nach über sieben Monaten wurde ein Leck entdeckt, durch das etwa 83000 Liter einer radioaktiven Flüssigkeit, bestehend aus Schwefelsäure, Uran und Plutonium, austraten. Die betroffene Halle wurde massiv verstrahlt. Ferngesteuerte Maschinen mussten das Abpumpen übernehmen.
Copyright © FR-online.de 2007 Erscheinungsdatum 10.10.2007
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sueddeutsche.de
Neue Zahlen zum Atomunfall
Strahlende Wolke über Windscale
50 Jahre nach dem Brand im britischen Kernreaktor Windscale haben Forscher das Ausmaß des Atomunfalls neu berechnet. Der Fallout war demnach deutlich größer als angenommen.
Von Christopher Schrader Es war ein schöner Herbsttag im Norden Englands, als dort am 10. Oktober 1957 der Unfall passierte, der "nur darauf gewartet hatte zu passieren", wie später Chronisten schrieben. Im Kernreaktor "Windscale 1" fingen am frühen Nachmittag ein 2000-Tonnen-Block Graphit und etwa zehn Tonnen Uran Feuer, und erst gegen Mittag am 11. Oktober hatten die Bedienungsmannschaften den Brand im Griff. Eine strahlende Wolke entkam dem Schornstein der Anlage und legte sich über England und große Teile Nordeuropas.
Jetzt, fast genau 50 Jahre später, haben zwei britische Forscher berechnet, dass damals etwa doppelt so viel radioaktives Material freigesetzt wurde als bisher geschätzt. Auch die Zahl der Krebsfälle, die das Unglück auslöste, sei deutlich höher als angenommen (Atmospheric Environment, Bd.41, S.3904, 2007).
John Garland, ehemaliger Mitarbeiter der britischen Atomaufsichtsbehörde, und Richard Wakeford von der Universität Manchester haben die alten Aufzeichnungen überprüft. Da der Wind in jenen 24 Stunden wechselhaft war und am Boden zwischen Südwest und Nord sprang, mussten sie genau rekonstruieren, wann welche Menge Radioaktivität freigesetzt worden war. Sie nutzten dabei unter anderem Computermodelle, die sonst der Wetter- und Klimavorhersage dienen. So konnten sie die Verbreitung der strahlenden Wolke simulieren und daraus auf die Menge der Radioaktivität zurückschließen.
Das meiste waren Jod-, Tellur- und Xenon-Isotope, die nach wenigen Wochen weitestgehend zerfallen waren; in der Zeit direkt nach dem Unfall aber musste die britische Regierung Lebensmittel wie Milch aus der betroffenen Region aus dem Handel verbannen und vernichten. Noch heute hingegen belasten Cäsium und geringe Mengen Plutonium die Umwelt. Eine Sonderstellung nimmt Polonium ein, das die Experten damals offenbar unterschätzten und geheimhielten. Nach Wakefords Schätzung ist es für einen Großteil der statistisch zu erwartenden 240 Krebsfälle verantwortlich. Frühere Schätzungen hatten von 200 Fällen gesprochen.
Die beiden Reaktoren in Windscale, das zum heutigen Nuklearkomplex Sellafield gehört, hatten eine primitive Konstruktion, ihnen fehlte zum Beispiel ein Sicherheits-Druckbehälter. Sie dienten allein dazu, Plutonium für Atombomben und einige andere Stoffe zu erbrüten.
Das Polonium zum Beispiel wurde für Zünder der Nuklearwaffen gebraucht. Die nukleare Kettenreaktion geschah in Aluminiumröhrchen mit Uran. Sie steckten in einem Graphitblock, der bei einem Zerfall austretende Neutronen bremste und so die Kettenreaktion ermöglichte. Die entstehende Wärme wurde wie bei einem alten Auto abgeführt: mit Luftkühlung.
Zur Stromerzeugung wie bei modernen Reaktoren wurde die Wärme nicht genutzt. Große Ventilatoren bliesen Luft durch die Kanäle mit den Brennelementen. Im laufenden Betrieb kam es dabei vor, dass der Luftzug die Brennelemente verschob oder aus dem Meiler warf. Hinter dem Reaktor wurde die erwärmte Luft durch einen 120 Meter hohen Schornstein wieder nach draußen geblasen. Dass in diesen Kamin Filter für radioaktive Stoffe gehörten, war beim Bau der Reaktoren ein Nachgedanke gewesen, der dem Zuständigen offenbar zunächst Spott eingebracht hatte.
In diesen Filtern nun begannen am Nachmittag des 10. Oktober 1957 die Strahlungswerte zu steigen, bald waren die Zeiger oben von der Skala gerutscht. Im Reaktor selbst wurde es schnell zu heiß. Offenbar war der Bedienungsmannschaft eine Wartungsmaßnahme außer Kontrolle geraten. Der Reaktorkern musste regelmäßig aufgeheizt werden, damit sich im Graphit keine Strahlenschäden ansammelten.
Dabei hatte es entweder eine lokale Überhitzung gegeben, oder ein Röhrchen, in dem andere radioaktive Substanzen aus Magnesium und Lithium erbrütet werden sollten, war in Brand geraten. Jedenfalls ließ sich der Reaktor nicht mehr kühlen, die eingeblasene Luft fachte das Feuer an.
Rot glühende Brennelemente
Als die Bedienungsmannschaft zur Kontrolle eine Revisionsklappe öffnete, sah sie Brennelemente rot glühen und Flammen am hinteren Rand des Graphit lodern. Die Brennelemente hatte sich bereits verzogen, ließen sich nicht mehr einfach aus dem Block entfernen. Teilweise benutzen die Arbeiter Vorschlaghämmer, wie britische Medien in ihren Berichten zum Jubiläum schreiben.
Schließlich griff die Mannschaft zu einem verzweifelten Mittel: Sie löschte mit Wasser. Das hätte eine verheerende Katastrophe auslösen können, schon weil die Gefahr bestand, dass der entstehende Dampf die Halle sprengt. Das Löschen war dann zwar erfolgreich. Doch bis heute arbeiten britische Behörden daran, den Unglücksreaktor abzubauen.
Politisch kam der Brand der Regierung unter dem damaligen Premierminister Harold Macmillan höchst ungelegen. Sie verhandelte gerade mit den USA über eine Aufnahme einer nuklearen militärischen Kooperation. Daher wurde der Untersuchungsbericht über das Windscale-Feuer für geheim erklärt, nur eine bereinigte Zusammenfassung erreichte die Öffentlichkeit. Erst seit 1989 sind alle Fakten über das Unglück allgemein zugänglich.
Spuren der Radioaktivität wurden damals in vielen Ländern Europas gemessen, jenseits der Nord- und rund um die Ostsee. 90 Prozent des strahlenden Materials aber sind damals über England niedergegangen, besagt die neue Studie.
In der internationalen Skala für die Schwere von nuklearen Unglücken, die von den Stufen Null bis Sieben reicht, belegt die strahlende Freisetzung die Stufe Fünf. Gravierender waren nur die Unglücke von Majak und Tschernobyl, wo nach Berechnungen Wakefords etwa 1000-mal so viel radioaktives Jod freigesetzt wurde wie in Windscale.
(SZ vom 09.10.2007) |