Das Feindbild als Neidbild
Von Reinhard Mohr
Seit fast drei Wochen halten die weltweiten Proteste im so genannten Karikaturenstreit an, ein Ende ist nicht absehbar. Zugleich beginnt der Beruf des Satirikers, wie der jüngste Fall beim Berliner "Tagesspiegel" zeigt, lebensgefährlich zu werden. Toleranz ist das Gebot der Stunde - ebenso ihre Verteidigung.
Wann hat es das je gegeben, dass zwei ausgewachsene Chefredakteure auf der Seite 1 ihrer Zeitung wortreich und am Ende doch ein bisschen kleinlaut und ängstlich erklären müssen, dass sich die Karikatur ihres Kollegen, in der es um religiöse Dinge überhaupt nicht ging, "innerhalb der Grenzen dessen" bewegt, "was in diesem Land von der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt ist".
Protest gegen die Mohammed-Karikaturen in Pakistan: Zu spät für Entschuldigungen? Zur Erinnerung: Diese Worte richten sich unter anderem an Leute, die in ihrem Machtbereich jeden ins Gefängnis werfen, foltern oder umbringen lassen, der sich auch nur ein Zipfel dieser Freiheit zu nehmen wagt. Und sie richten sich an Leute, die wegen einer Karikatur Todesdrohungen ausstoßen, die den bedrohten Zeichner veranlassen, fürs erste unterzutauchen.
Die Lektion wirkt.Deutsche Karnevalsvereine bekennen inzwischen, dass sie auf humoristische Anspielungen rund um Mohammed lieber verzichten wollen. Sicher ist sicher. Trotz Kostüm und Narrenkappe. Auch im Printbereich spürt man hier und da schon eine gewisse Zurückhaltung. Bloß nicht provozieren, heißt die Devise. Man kann ja auch ein anderes Wort nehmen. Und es gibt so viele andere interessante Themen. Die Vogelgrippe zum Beispiel.
Brandgefährlicher Humor
"Wir Dänen fühlen uns wie im falschen Film", sagte vor wenigen Tagen der dänische Ministerpräsident Fogh Rasmussen im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Mit Verlaub: Da sind sie nicht die einzigen. Wir auch. Man reibt sich die Augen.
Weil durch zwölf, mehrere Monate alte und fürs europäische Auge harmlose Cartoons der dänischen Zeitung "Jyllands Posten" angeblich die "religiösen Empfindungen" von Millionen Moslems verletzt wurden, brennen Flaggen und Botschaften europäischer Länder. Dänische Waren werden aus den arabischen Regalen geräumt, die Bürger dieses Landes sind derzeit so gut wie vogelfrei, was in der Praxis für blonde Schweden, Norweger und Holländer gleichermaßen gilt. Auch hellhäutige Norddeutsche gehen da schnell als verkappte - und verhaßte - Dänen durch.
Mehrere EU- und UN-Vertretungen in den palästinensischen Gebieten mussten nach Gewaltakten evakuiert werden. Boykottaufrufe, Terrordrohungen, blutrünstige Racheschwüre und Attacken auf westliche Bürger nehmen kein Ende. Und soviel ist klar: Wortreiche Erklärungen und lauwarme Entschuldigungen aus dem Westens werden im Geltungsbereich der Scharia nicht akzeptiert."Zu spät", kommentiert der pakistanische Schriftsteller Ahmed Rashid lakonisch.
Für Kenner der deutschen Debattenkultur war es natürlich nur eine Frage der Zeit, wann Günter Grass das Wort erheben würde zum Kampf der "Unkulturen", wie er vor ein paar Tagen in der spanischen Tageszeitung "El Pais" unnachahmlich formuliert hat. Und klar war auch, dass das Urteil hart ausfällt. Er sagt: "Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen."
Er meint: Wir im Westen. Wen sonst. Also müssen wir raus in die freie Wildbahn und uns dem weltweiten Sturm der religiösen Gefühle schutzlos aussetzen. Selber schuld. Das haben wir nun davon.Während immerhin die meisten Debattenredner in Europa das hart erkämpfte Gut der Meinungsfreiheit verteidigen und gleichzeitig zu Toleranz, Vernunft und Deeskalation aufrufen, gießen islamistische Fanatiker und ihr neuer geistig-moralischer Führer, Irans Präsident Ahmadenischad, immer weiter Öl ins Feuer, Holocaust-Leugnung und beständig wiederholte Vernichtungsdrohungen gegen Israel inklusive.
Während wohlmeinende, multikulturell geprägte Intellektuelle im Westen vor einem "Kampf der Kulturen" warnen, sind die radikalen Islamisten schon mittendrin und voll dabei. Während selbst das christliche "Wort zum Sonntag" der ARD den "interkulturellen Dialog" anmahnt und mehr Rücksichtnahme auf den islamischen Glauben fordert, bereiten die umworbenen Dialogpartner bereits den "Dschihad" vor, den heiligen Krieg. Mit und ohne Atombombe.
Schon jetzt hat diese historisch einmalige Auseinandersetzung, deren vorgebliche Auslöser mittelmäßige Strichzeichnungen einer Zeitung waren, die 99,99 Prozent der Weltbevölkerung niemals zu Gesicht bekommen, Dutzende von Toten gefordert. Lassen wir die großen Worte über Religion und Philosophie, Rechtsstaat und Diktatur, Aufklärung und Despotie beiseite. Reden wir über unsere, ja unsere Gefühle, auch wenn sie robuster zu sein scheinen als jene in der islamischen Welt.
Kultur des Kopfschüttelns
Wenn wir von Imamen in Europa, die hier sämtliche Freiheiten der westlichen Zivilisation genießen, als "Ungläubige" beschimpft werden, nur weil wir Christen, Juden, Buddhisten oder Anarchisten sind, wenn Juden in arabischen Medien als Massenmörder, Kinderschänder, Schweine und Ratten dargestellt werden, wenn in dem aktuellen türkischen Hetzfilm "Tal der Wölfe" ein jüdischer Arzt gezeigt wird, der wie einst der Nazi-Folterknecht Dr. Mengele Nieren aus unschuldigen (hier: türkisch-arabischen) Körpern herausoperiert, wenn Angela Merkel mit Hitler verglichen wird und der Mord an Dutzenden unschuldiger Zivilisten in der Londoner U-Bahn von islamischen Geistlichen aufs Höchste gepriesen wird, dann schütteln wir den Kopf.
Manchmal werden wir zornig und suchen nach harten, klaren Worten. Meist aber sind wir ziemlich ratlos. Warum ist das so? Weil wir auf dem falschen Fuß erwischt werden, weil wir aus allen Wolken fallen, weil wir ganz für uns denken: Das gibt es doch nicht, das kann doch nicht wahr sein. Der Schriftsteller Botho Strauß, der schon in seinem Essay "Anschwellender Bocksgesang" 1993 die ästhetische und moralische Schwäche, ja Verkommenheit der westlich-liberalen Gesellschaften beklagte, kann sich nun bestätigt sehen. Denn das, was wir der "sozialen Integrationskraft" des Islam und seinem totalitären Anspruch entgegenzusetzen hätten - Differenzierungsvermögen, Schönheitsverlangen, Kunst, Reflexion und Sensibilität - sei bei uns gegenwärtig selbst nur von "geringem Ansehen". Die Spaßgesellschaft lässt grüßen. Kurz: Unsere inneren, unsere geistigen, genauer: "geistlosen" Abwehrkräfte seien schwach.
Andererseits: Der im Augenblick so deutlich aufbrechende "Antagonismus sakral/säkular" (Strauß) biete auch eine Chance, weil er das Ende der "herrschenden Beliebigkeit" erzwinge, das Ende jenes kulturellen Relativismus, der selbst keinen Standpunkt und kein Selbstbewusstsein hat.
Das Kreuz mit dem Bekenntniseifer
Bleibt die Frage: Welcher Standpunkt, welches europäisches Selbstbewusstsein? Wenn man etwa Leserbriefe in der konservativ-liberalen "FAZ" zu Rate zieht, in der reihenweise religiöse Bekenntnisse abgelegt werden, begegnet man einigermaßen merkwürdigen Standpunkten: "Wäre der Westen ... christlicher, würde er mehr Respekt in der muslimischen Welt erfahren", schreibt da ein Leser. "Religion ist eine sinnstiftende Universalschau der Welt und des Lebens, die das Leben der Gläubigen trägt. Man hat nicht religiöse Gefühle verletzt, sondern Lebensfundamente. Da dem Säkularismus naturgemäß solche Fundamente fremd sind, tappt er in dieser Welt herum wie der Elefant im Porzellanladen."
Ein anderer weist darauf hin, dass uns offenbar die Sensibilität für das "Ehrgefühl" abhanden gekommen sei, und ein dritter formuliert: "Mag hierzulande Gotteslästerung auch nicht mehr strafbedroht sein, so bleibt sie doch ein schwerwiegender Verstoß gegen die ethischen Grundlagen unserer auf Religionsfrieden aufgebauten Gesellschaft."
Auch das eine interessante Neuigkeit, denn der Religionsfriede von 1648 hat sich inzwischen doch ein wenig weiterentwickelt - hin zur säkularen und demokratisch verfaßten Gesellschaft, in der Staat und Kirche klar getrennt wurden und religiöser Glaube weithin zur Privatsache geworden ist.
Am offensten, man könnte sogar sagen, "verräterisch offen" spricht Leserbriefschreiber Professor Dr. Gerhard E. Feurle aus, worum es eigentlich geht, gerade weil er deutliche Sympathien für die islamische Welt empfindet: "Unsere säkulare Weltanschauung bedroht - ob wir es wollen oder nicht - die Existenz des Glaubens der muslimischen Welt mit dessen Regeln, Sitten, Gebräuchen und Gesetzen. Eine der Ursachen des islamistischen Terrors neben dem Palästina-Problem ist doch der Verteidigungskampf der traditionell Rechtgläubigen gegen die als zerstörerisch empfundene Kraft unserer Zivilisation. Die Karikatur des Propheten wird als Teil dieses Vernichtungswerks gesehen, der ins Herz des islamischen Glaubens trifft." Das ist des Pudels Kern.
Freiheitsliebe, nicht Folklore
Die pure Existenz des Westens und, ja, auch seine Ausstrahlungskraft bis in die vor den Blicken der Mullahs gut geschützten Wohnzimmer Teherans hinein, bedrohen die Recht- und Strenggläubigen. Gerade weil sich der Westen nach Jahrhunderte langen Religionskriegen und Revolutionskämpfen zu einer säkularen freiheitsliebenden Zivilisation entwickelt hat, wird er zum Feind des panislamischen Glaubens.
Diese Zivilisation ist aber keine schrullige Ausgeburt bornierter Europäer, keine ethnisch-kulturelle Folklore, kein Luxusaccessoire für verwöhnte Wohlstandsbürger und schon gar kein Privileg für Weiße, Imperialisten, Verrückte und milliardenschwere Ölmagnaten. Ganz im Gegenteil: Sie ist für alle Erdenbürger verbindlich in der UN-Charta für Menschenrechte niedergelegt, in unzähligen offiziellen, weltweit gültigen Erklärungen und Dokumenten, nicht zuletzt in den Köpfen und Herzen von Millionen Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als in Freiheit und Frieden leben zu können.
Die gegenwärtige Auseinandersetzung zeigt, dass die pathosentwöhnten, satireresistenten und zynisch abgeklärten Europäer all das, was ihnen im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte selbstverständlich geworden ist, von Zeit und Zeit noch einmal flammend verteidigen müssen. Salman Rushdie, viele Jahre von einer mörderischen "Fatwa" bedroht, schrieb kurz nach dem 11. September 2001: "Der Fundamentalist glaubt, dass wir an nichts glauben. Um ihn zu widerlegen, müssen wir wissen, dass er irrt. Also kommt es darauf an, was für uns zählt."
Es ist selbstverständlich, dass seine vorläufige und ganz und gar unvollständige Liste "westlicher Werte" für manche schon wieder die reine Gotteslästerung ist: "Küssen in der Öffentlichkeit, Schinken-Sandwiches, öffentlicher Streit, scharfe Klamotten, Literatur, Großzügigkeit, Wasser, eine gerechte Verteilung der Ressourcen der Welt, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe."
Man könnte hinzufügen: Witz und Satire. |