Armut als Lebensform "Ich will Hartz IV werden" Bis zu 80 Prozent aller Hauptschüler aus dem Kölner Armutsviertel Chorweiler haben keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Doch das stört viele nicht. Und man kann ihnen das nicht einmal vorwerfen. Von Cathrin Kahlweit
Was soll das für einen Sinn machen - zur Schule gehen, lernen, wenn doch hinterher sowieso keine Lehrstelle rausspringt? Wenn die Stütze später aufs Konto fließt? Warum überhaupt aufstehen, wenn Eltern und Geschwister, die auch keine Jobs haben, weiterschlafen?
Bis zu 80 Prozent aller Hauptschüler aus dem Kölner Armutsviertel Chorweiler haben keine Chance auf einen Ausbildungsplatz, die Mehrzahl der Erwachsenen ist hier langzeitarbeitslos. Die Jugendlichen wollen "Hartz IV" werden: Geld vom Staat als Berufswunsch - sie kennen es nicht anders.
Brigitte Erdweg, die bei der Beratungsstelle ECho (Engagiert in Chorweiler) Arbeitslose betreut, erlebt das seit langem: "Diese Orientierungslosigkeit, die sich einstellt, wenn kein Ziel mehr da ist."
"Lernen gibt es nicht mehr"
Sie selbst ist 53, kommt vom Land, die Eltern waren Arbeiter, "da wurde täglich warm gekocht, und jeder musste was lernen. Das gibt es hier nicht mehr". Hier, im sogenannten Problemviertel Chorweiler, wo sich Generationen von Sozialhilfe ernährten und heute von Hartz IV leben, "ist das Fernsehen die einzige Orientierung. Es gibt keine Tagesstruktur in den Familien, und wenn die Kinder Glück haben, kriegen sie 50 Cent für ein Brötchen."
Armut als Lebensform - sie ist vielerorts in Deutschland zu beklagen, und sie zerstört die Zukunft von Kindern. Wo schon die Oma Sozialhilfe bekam und die Mutter auch, wo Väter, die bei ihrer Familie wohnen, eine Seltenheit sind, wo Männer als Ernährer ausfallen und Frauen mit ihren Kindern auf sich und die Sozialhilfe angewiesen sind, da wird die staatliche Alimentierung zum Lebenskonzept.
"Kinder lernen von ihren Eltern, dass sie keine Chance haben", weiß Brigitte Erdweg, "und dann enden ganze Familienclans in der Resignation."
Passivität - als Lebensform kultiviert
Die Praktikerin Erdweg versucht, mit Tipps und Jobs weiterzuhelfen. Der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge hingegen betrachtet die Resignation, die mit lebenslanger Armut einhergeht, als eine Art Zwangsläufigkeit.
Passivität, wie sie von Langzeit-Armen als Lebensform kultiviert werde, sei Ursache und Folge zugleich: Wer wenig Chancen habe, werde apathisch, so Butterwegge, und verschaffe sich so eine gewisse innere und äußere Stabilität.
Butterwegge, der als Spezialist für das Thema Kinderarmut gilt, beklagt die Verlogenheit der öffentlichen Diskussion: Wo über Generationen Armut gewachsen und staatliche Unterstützung der einzige Lebensunterhalt sei, werde den Betroffenen vorgeworfen, sie hätten ihre Situation selbst verschuldet.
Über Jahre hinweg arm
"Aber je länger Menschen sich in ihrer Misere einrichten, desto weniger kann man fordern, dass sie selbst herausfinden." Der Staat müsse hier besonders viel Hilfe leisten: durch Sozialarbeit, psychosoziale Betreuung, Ganztagesbetreuung.
Allerdings sind Sozialhilfe-Karrieren, mit denen jede Aufstiegshoffnung begraben wurde, statistisch eher die Ausnahme. Zwischen 1998 und 2003 hat jeder dritte Empfänger von "Stütze" seine "Armutsphase", wie es im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt, nach einem Jahr unterbrochen, nach zwei Jahren waren es schon zwei Drittel. Aber: Knapp zehn Prozent der Betroffenen waren über Jahre arm. Und sind es mutmaßlich noch heute.
(SZ vom 7.12.2006)
http://www.sueddeutsche.de/,tt4m3/deutschland/artikel/944/93851/ |