Angriff auf das geldpolitische Dogma der EZB Europas Zentralbanker sollen das Wachstum stärken. Aber die Zinsen sind nicht das Problem der EUvon Ulrich Machold | | EZB-Chef Jean-Claude Trichet Foto: AP | |
Der letzte Hieb kam aus Paris. "Die Preisstabilität darf nicht die einzige Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) sein", forderte der französische Staatspräsident Jacques Chirac in seiner Fernsehansprache zum Nationalfeiertag am 14. Juli. Die amerikanische Notenbank Fed zögere nicht, Maßnahmen zur Konjunkturbelebung zu ergreifen. Das sei auch in Europa nötig. "Die Aufgabe der EZB muss darum überprüft werden."
Das war nicht weniger als ein Generalangriff auf das Selbstverständnis der Notenbank. Denn die EZB unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Trichet hat als erklärtes Hauptziel die Inflationsbekämpfung. Konjunkturpolitik für die zwölf Länder der Eurozone kommt in ihren Statuten bislang vage bis gar nicht vor.
Jetzt allerdings mehren sich - mal wieder - die Stimmen, die nach einer anderen Rolle der Bank rufen. Neben Chirac haben auch der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi und der Gouverneur der französischen Notenbank, Christian Noyer, Änderungen in der EZB-Politik gefordert. Zinsen senken, um über billige Kredite die Wirtschaft anzukurbeln, heißt das im Klartext. Die Inflation sei zu niedrig, um gefährlich zu sein. Selbst Hans-Werner Sinn, chronisch konservativer Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung, gibt Chirac Recht. "Das sehe ich auch so", sagt er. "Die EZB schaut viel zu sehr auf die Preisstabilität."
Ob das so einfach ist, ist allerdings fraglich. Denn nach Ansicht der meisten Ökonomen sind die Zinsen nicht das Hauptproblem der Europäer. Vielmehr behindern unflexible Märkte den Wirtschaftsaufschwung. Erst wenn sich das ändert, kann auch Geldpolitik wie in den USA Erfolg haben. Bis dahin wäre sie eher gefährlich.
Davon abgesehen wäre eine Änderung des EZB-Kurses nicht weniger als ein Bruch mit Jahrzehnten europäischer Geldpolitik - zumindest mit ihren erfolgreicheren Varianten. Inflation, so lautete spätestens seit den 1970ern der Konsens, ist die Hauptgefahr für die Volkswirtschaft. Steigen die Preise zu schnell, werden die Ersparnisse entwertet. Kredite werden knapp, weil das Geld bei Rückzahlung weniger wert ist. Alle verlieren - bis auf den Staat, dessen Schulden an Wert verlieren und deshalb leichter zu bezahlen sind.
Preisstabilität ohne Regierungseinfluss hatte darum Priorität. Auch deshalb ist die EZB völlig unabhängig und hat einen Verhaltenskodex, der ihr kaum Spielraum lässt. Inflationsbekämpfung, so steht es in ihren Statuten, ist die Hauptaufgabe. Erst wenn die geschafft ist, darf vielleicht auf die Wirtschaftslage geschaut werden - im Gegensatz zur Fed, die solche Festlegungen nicht kennt. Die EZB selbst definierte sich ihr Ziel als Inflationsrate von "unter, aber nahe an zwei Prozent pro Jahr". Momentan liegt sie knapp darüber.
Das soll nun nicht mehr genug sein. Und selbst die Franzosen sind sich nicht zu schade dafür, als Vorbild die USA einzuspannen. Dort senkte Fed-Chef Alan Greenspan den Leitzins seit November 2000 dramatisch, um ihn bis vor kurzem auf dem niedrigsten Stand seit den 1950ern zu halten. Erklärtes Ziel war es, die nach dem Aktiencrash trudelnde Volkswirtschaft aufzufangen. Die US-Wirtschaft kam tatsächlich schnell aus der Rezession (siehe Kasten). Der Euro-Raum dagegen stagniert. Folge der höheren Zinsen? "Die EZB hätte früher mehr Gas geben müssen", sagt Hans-Werner Sinn. Allerdings spricht vieles dafür, dass auch niedrigere Zinsen der Wirtschaft in Euroland nur bedingt auf die Sprünge geholfen hätten. "Das Durchschnittswachstum von 1,9 Prozent seit 1999 liegt nah bei dem, was man an Wachstumspotenzial in der Euro-Zone erwarten kann", meint Darren Williams, Ökonom bei Alliance Capital. Die Schwäche der europäischen Wirtschaft habe eher mit unflexiblen Märkten zu tun als mit den Zinsen. Zwar seien die EZB-Einheitszinsen für einige Länder, vor allem für Deutschland, vielleicht zu hoch. "Aber man muss die Alternativen sehen", meint Williams. "Zu Zeiten der Bundesbank waren die Zinsen höher. Der kurzfristige reale Zinssatz in Deutschland ist jetzt niedriger, als er in den letzten 25 Jahren je gewesen ist."
Das glaubt auch Michael Burda, Star-Ökonom der Berliner Humboldt-Universität. "Das Wachstum kommt aus der Wirtschaftsordnung", sagt der Professor. "Die stimmt in den USA. Und in Europa stimmt sie eben nicht."
Die flexiblen Märkte in Amerika geben der Fed einen weiteren Vorteil. Geht es mit der US-Wirtschaft bergab, werden sofort Mitarbeiter entlassen und Löhne gekürzt. Der Inflationsdruck nimmt ab und gibt der Notenbank die Freiheit, die Zinsen zu senken. "Greenspan konnte die Zinsen deshalb so stark senken, weil der Preisdruck in der Wirtschaft im Abschwung verschwand", sagt Thomas Mayer, europäischer Chef-Ökonom der Deutschen Bank. "In Euroland sank das Lohnwachstum nicht, es gab kaum Entlassungen. Die EZB hatte deshalb weniger Spielraum."
Dass Konjunkturpolitik der EZB die Wachstumslücke zwischen Europa und den USA schließen könnte, scheint also unwahrscheinlich. Eines würde aber wohl kommen: mehr Inflation. Denn nach wie vor gilt, dass niedrige Zinsen mehr Geld im Wirtschaftskreislauf bedeuten. Und das treibt die Preise. "Man muss sehr vorsichtig mit politischen Forderungen an die Zentralbank sein", sagt Dennis Snower, designierter Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. "Denn die Inflation hängt am meisten von den Menschen ab." Erwarteten die, dass die Preise stiegen, dann täten sie das auch. "Wir haben Jahrzehnte gebraucht, um die Inflationserwartungen zu senken", sagt Snower. "Das sollte man nicht leichtfertig verspielen."
Amerika hat es auch dabei besser. Am 11. August wird Fed-Chef Alan Greenspan 17 Jahre im Amt sein, eine Regentschaft von Helmut-Kohlschen Ausmaßen. Und er gilt als Inflationskiller. Selbst wenn die Fed also die Zinsen senkt, um die Konjunktur zu fördern, hat kaum ein Amerikaner wirklich Angst vor höheren Preisen. "Die Fed hat einen Reputationsvorsprung", sagt Michael Burda. "Greenspan hat meistens klug gehandelt, man vertraut ihm." Die EZB dagegen dürfe nicht so viele Freiheiten bekommen. "Der ideale Zinssatz für die einzelnen Euro-Länder ist unterschiedlich", sagt Burda. "Wenn die Zentralbank zu viel Spielraum hätte, würde ein Kampf um den Chefsessel entbrennen. Das Land, das "seinen" Präsidenten installieren kann, hätte dann gewonnen."
Einige Experten meinen sogar, dass sich nicht die Zentralbank an der Politik orientieren solle, sondern andersherum. "Das Zusammenwirken der Euro-Mitgliedsstaaten klappt nicht. Es knirscht ganz gewaltig", sagt Thomas Mayer. Die EZB müsse sich deshalb ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung stellen. "Die Bank sollte den Regierungen klar sagen: ,Wir erwarten, dass ihr fiskal- und strukturpolitisch reformiert. Dann werden wir die Zinsen senken oder niedrig halten"", sagt Mayer. "Dann könnte eine aktivere Geldpolitik auch wirken." In der neuen EU-Verfassung jedenfalls wird die EZB wohl nicht mehr außerhalb der EU-Struktur stehen, sondern nur noch eine "normale" Institution sein. Außerdem wollen vor allem die Franzosen eine "Wirtschaftsregierung", mit einem "Mr. Euro" an der Spitze als Gegengewicht zur Notenbank. Inklusive regelmäßiger Treffen zwischen EZB und Politik.
Ganz spurlos scheint das auch an der Zentralbank nicht vorbeizugehen. Obwohl die Inflation nach wie vor über zwei Prozent liegt, kündigte das belgische EZB-Ratsmitglied Guy Quaden schon einmal an, man mache sich keine Sorgen. Die Inflation sei bis auf Weiteres wohl keine Gefahr. Damit ist klar, dass die EZB die Zinsen bei ihrer nächsten Sitzung am Donnerstag zumindest nicht erhöhen wird.
Mitarbeit: Cornelia Schmergal
Artikel erschienen am 1. August 2004 |