Dax-Rallye kraft selektivem Denken von Ronald Gehrt
Sieh an, der Dax. Ein neues Verlaufshoch in der laufenden Aufwärtsbewegung die, so der Optimist, ja mit drei Wochen noch ganz jung ist ... oder, so der angebliche Pessimist, über vier Jahre alt und langsam tatterig wird.
Es soll mir heute um ein W gehen. Denn mir ist aufgefallen, dass dieses W momentan offenbar die Börse dominiert ... indem es fehlt. Und ich meine, das hat sich intensiviert, seit viele der großen Aktienindizes selbst ein W, sprich ein Doppeltief, ausgebildet haben.
Seitdem strebt unser Aktienmarkt dynamisch aufwärts. Mir persönlich scheint das reichlich verdächtig, aus zahlreichen Gründen, zu denen ich gleich kommen werde. Aber am deutlichsten fällt eines ins Auge ... wenn man bereit ist, neben dem aktuell wieder in Mode gekommenen, rein bullishen Blick auch mal einen skeptischen (und damit schließlich nicht zwingend bearishen) Blick zu riskieren:
Wenn wir uns ansehen, wie sich andere große Indizes im Vergleich dazu stellen, sehen wir sofort: Irgendwie scheint uns hier der übliche Geleitschutz zu fehlen. Der Dax steuert alleine in unbekannte Gewässer. Und während zugleich in den Medien die Mahner wieder in den Schrank gestopft und die Bullen hervorgeholt werden, ist eine entscheidende Frage offenbar nicht wert, diskutiert zu werden: Warum?
Warum steigt der Dax im Alleingang auf neue Hochs? Warum sollen auf einmal alle negativen Faktoren, da man sie ja leider nicht wegzaubern kann, ohne Belang sein? Und vor allem: Warum wird diese Rallye so wenig hinterfragt?
Es soll uns also um ein W gehen, das keiner haben will.
Zwei Argumente pro Europa
Zunächst zu den Aspekten, die ich nachvollziehen kann: Wir haben in Relation zu den USA das höhere Wachstum. Rein nach den Zahlen vielleicht nicht. Aber man muss sehen, dass die wahnwitzigen Verteidigungsausgaben der USA zum Bruttoinlandsprodukt mitzählen, ohne dass daraus ein echter Wert geschaffen wird. Im Euroraum hingegen sind das, was über das Bruttoinlandsprodukt geschaffen wird, zum größten Teil echte Werte, die wiederum neue Werte schaffen können.
Wer nun als ausländischer Investor kaufen will, findet so in Europa Stabilität, Ausgabendisziplin und – vor allem – eine stabile Währung, die eher dazu neigt, Währungsgewinne als Bonbon zu bescheren denn zum Problem zu werden. In den USA hingegen ist reichlich zu entdecken, das einem die Suche nach alternativen Anlageräumen nahe legt.
Ein halbes Argument pro Dax: Chart- und Markttechnik
Mit der Einstellung der bisherigen Höchstkurse haben wir nun natürlich die Chance auf eine Fortsetzung der Rallye auf dem Fuß. Wenn der Dax nun nur noch etwas zulegt, werden Anschlusskäufe fast notwendigerweise noch für weitere feste Tage sorgen. Sie sehen im Chart, dass in diesem Fall auch der Wiedereintritt in den Juli 2006-Trandkanal gelänge, dessen obere Begrenzung bei aktuell 7.360 dann wieder gälte.
Allerdings: Noch ist der Break über die Ende Februar erreichten Tops bei 7.040 nicht signifikant und noch ist der Dax nicht wieder in diesen Kanal eingetreten. Zudem ist die Stochastik natürlich nach 600 Punkten Hetzjagd nach oben ebenso überkauft wie sie nach dem Kursrutsch überverkauft war (was damals als Verkaufsargument galt, also ...?) und die Umsätze passen alles andere als gut zu neuen Hochs. Mit jedem Tag steigender Kurse nehmen sie ab statt zu.
Und: Erstens ist die Charttechnik alleine ohne Geleitschutz durch die Fundamentals und das Sentiment auf verlorenem Posten. Und zweitens klappt ein wirklich nachhaltiger neuer Aufwärtsschub (gerade nach 600 Punkten ohne Gegenbewegung) nur, wenn auch andere große Weltbörsen mitziehen. Und das ist weder in den USA noch in Asien bislang der Fall. Und man darf nicht einfach ignorieren, dass auch diese Börsen ihren Doppelboden hatten, ihr W, ohne deswegen schon wieder neue Hochs markiert zu haben.
Sicher, ziehen diese Märkte nach – also Tokio, Hongkong, Dow & S&P (beim Nasdaq wäre ja schon drei Tage am Stück im Plus ein Erfolg) ... dann würde sich die Dax-Rallye vielleicht sogar auf schlappe 1000 Punkte, also bis 7.400, ausdehnen können. Stellt sich indes die Frage: Werden die anderen Börsen nachziehen? Das ist aktuell allemal noch völlig offen.
Und: Ich bin erstaunt, wie schnell alle immer noch in voller Blüte stehenden Belastungsfaktoren so völlig in der Versenkung verschwunden sind. Nicht mal über eine angeblich doch so regelmäßig auftretende Mai-Korrektur scheint man sich Sorgen zu machen ... die doch sonst immer das Argument ist, jetzt langsam ans Verkaufen zu denken.
Bei den anderen ins Feld geführten Argumenten, weshalb man jetzt einsteigen sollte, gruselt es mich jedoch richtig. Da hätten wir das Paradeargument, das jedes Mal kommt, wenn sonst nichts zieht: Geld.
Seltsame Logik I: Liquidität
Es ist so viel Liquidität da, da müssen die Börsen doch steigen. Erlauben Sie die dämliche Frage meinerseits: Wo treibt sich diese Liquidität denn rum, wenn die Börsen mal fallen? Und woher kommt diese Liquidität? Ist es neu gedrucktes Geld, das jeder aufsammeln konnte ... nur ich habe es mal wieder nicht mitgekriegt?
Wo kommt es her? Aus dem Vermögen der Anleger. Ob es nun direkt an die Börse kommt oder über Fonds – es kommt, weil die Kurse steigen. Es war vorher auch schon da. Es sind Vermögenswerte, die vorher Sparbücher, Festgeld, Anleihen, Lebensversicherungen etc. waren – oder es noch sind – und nun die Argumentation für weiter steigende Kurse darstellen.
Aber dieser Fluss kann – auch, wenn das nie auch nur angeschnitten wird – durchaus schnell versiegen. Und zwar, sobald die Börsen wieder fallen. Denken wir an 1999/2000. Auch damals kam dieses Argument als letzte Begründung, warum der Dax von 8.000 bald auf 10.000 gestiegen sein wird. Ich habe das nicht vergessen. Aber viele, die heute investieren wollen – eben weil die Börse steigt und nur deswegen – wissen das nicht. Damals endete diese Argumentationskette recht unzweideutig: Ende 2002 hatte sich das Thema mit der Liquidität zum Großteil erledigt. Denn da war das Geld wieder weg.
Seltsame Logik II: Ich seh’ dich nicht, du siehst mich auch nicht
Was ich in den vergangenen Wochen auch beobachte ist eine seltsame Logik, die darauf basiert, einfach auszublenden, was bei der Argumentation stört. Nach dem bei Kleinkindern völlig eindeutigen Gedankengang: Wenn ich etwas nicht sehe, sieht es mich auch nicht. Ob das für die Börsen eine so gewitzte Strategie ist ... ich weiß nicht recht.
So hörte ich gestern – als Beispiel – ein Interview mit einem Manager von AXA, der das Problem der japanischen Carry-Trades wie folgt als nicht brisant darstellte: Um den Zinsvorteil, den die USA oder Europa haben, umzukehren, müsste die japanische Notenbank in kurzer Zeit achtmal die Leitzinsen erhöhen. Und das wird nicht passieren. Na, ist das nicht perfekt? Man muss nur weglassen, dass das Problem in Wahrheit nicht beim reinen Zinsniveau, sondern in der Veränderung der Wechselkurse liegt, und schon ist alles gut.
Seltsame Logik III: Viele Pessimisten sind bullish, keine Pessimisten auch
Nächstes Beispiel: Vor dem Einbruch Ende Februar wurde als Argument pro Hausse ins Feld geführt, dass der Anteil an Pessimisten viel zu hoch sei, als dass es nach unten gehen könne. Diese Mehrheit an Pessimisten zeigen oder belegen konnte niemand, aber eine satte Behauptung ersetzt so manchen Beweis.
Jetzt jedoch ist der Anteil an Pessimisten sogar sichtbar gering: In den Medien sind sie ausgestorben. In diesem Fall greift die Regel eigentlich umgekehrt: Wenn alle so bullish sind, wer soll dann nächste Woche noch kaufen? Denn wer bullish ist, hat ja bereits Aktien. Ein Bulle, der nicht investiert ist ... wäre reichlich seltsam. Eigentlich wäre diese euphorische Stimmung also ein Warnsignal.
Nur wird jetzt einfach die Argumentation zurechtgebogen: Wenn alle so bullish sind, dann verkauft keiner. Also muss es weiter raufgehen, weil ja dann das neu hinzukommende Geld (das einfach so kommen wird) regelmäßig an die Börsen gebracht wird und so die Kurse treibt. Es muss also nicht viele neue Käufer geben, weil „das Geld“ kommt und dazu führt, dass „es steigt“. Überdenkenswert, finden Sie nicht?
Allerdings: Man muss wohl auch so schräg argumentieren, denn die rückläufigen Umsätze zeigen schon, dass der Rallye langsam ein wenig die Marktbeteiligung ausgeht.
Seltsame Logik IV: Gute US-Daten sind gute Nachrichten, schlechte keine Nachrichten
Der Dax hat seine Rallye vornehmlich zwei speziellen Aspekten zu verdanken: Immer, wenn in den USA miese Konjunkturdaten kommen, stockt der Dax, fällt aber weitaus weniger als die US-Börsen. Weil uns deren Konjunktur ja schließlich nichts angeht. Kommt aber eine Zahl über den Erwartungen, schießen bei uns die Kurse weit stärker nach oben als in den USA. Weil das ja schließlich tolle Nachrichten sind.
Dabei wird übersehen, dass der Trend dennoch klar nach unten weist. Siehe die gestern veröffentlichten, so genannten „schwebenden“ Hausverkäufe (pending home sales). Hier gab es statt des erwarteten Minus von –0,7% einen Anstieg um +0,5%. Erfreulich, keine Frage. Aber der Trend bleibt, nach einem Minus von über -4% im Vormonat, doch klar abwärts gerichtet. Doch die Kurse feiern selbst solche Daten, die eigentlich nur zur zweiten Kategorie der US-Konjunkturdaten gehören, als hätten wir wirtschaftlich die beste aller Welten.
Dabei gibt es keinerlei Relativierung: Dass sich das Thema Zinssenkungen doch vorerst erledigt hat, hat zwar die US-Börsen gedrückt – aber nicht den Dax. Der stieg zwar wegen der falschen Interpretation des US-Notenbank-Statements wie eine Rakete, die Enttäuschungsverkäufe sollten aber die Amis mal alleine machen.
Seltsame Logik V: Unsere Dauerbrenner
Der zweite Aspekt sind unsere hausgemachten Unternehmensstories. Was ich von der Daimler- und der VW-Rallye halte, wissen Sie ja. Übrigens freute ich mich, dass der bekannte DWS-Fondsmanager Klaus Kaldemorgen diese Ansicht teilt. Auch seiner Ansicht nach haben die Kurse der Autowerte den Boden der Realität längst verlassen. Aber auch E.ON ist ein prächtiges Beispiel:
Erinnern wir uns: Die E.ON-Aktie sackte, als die Übernahmeabsicht bzgl. Endesa im September 2006 bekannt wurde, erst einmal durch. Das Ganze schien zu teuer. Dann wurden die Angebote erhöht, als Widerstände auftraten. Daraufhin zog der E.ON-Kurs immer wieder deutlich an. Vor allem, weil sich dann doch die Meinung durchsetzte, dass das eine tolle, einmalige Chance wäre und E.ON zu einer weit besseren Marktposition verhelfen würde. Und nun gibt E.ON auf, weil es doch zu teuer wird ... und der Kurs schießt erneut nach oben. Bemerkenswert.
Selektives Denken: Zeitzünder mit unbekannter Laufzeit
Selektives Denken macht bei Bedarf alles bullish, keine Frage. Aber wird das dann auch so weitergehen, nur, weil man sich die Fakten so zurechtbiegt, damit es zum Depot passt?
Wenn das ein kollektives Verhalten ist, kann es verblüffend lange gut gehen. Denken Sie daran: Das selbe galt in 2000 vor der zweieinhalbjährigen Baisse und vor jeder größeren Korrektur. Solange nicht ein überraschendes Ereignis zum Nachdenken zwingt, nährt die Hausse die Hausse. Und das gilt immer – ebenso umgekehrt. Eben diese Baisse 2000 bis 2002 ignorierte auf die selbe Weise durch selektives Denken alle positiven Signale. Zu dieser Zeit war eben alles schlecht – auch wenn es objektiv betrachtet gut war. Und:
Gerade der Umstand, dass dieser scharfe Einbruch Ende Februar keine längere Wirkung entfaltete, gibt den Akteuren nun das Gefühl, dass der Hausse nun nichts, aber auch gar nichts mehr etwas anhaben kann. Mehr noch als vor dem Einbruch, als die Sorglosigkeit bereits bedenklich genug war.
Unglaublich bullishe Stimmung
Und so kann es in den kommenden Tagen durchaus weiter nach oben gehen. Denn logischerweise ist gerade bei uns die Stimmung nicht nur verhalten positiv mit dezenter Skepsis, wie es gesund wäre. Nein, die Stimmung ist ab-so-lut bullish.
Ich habe immer und immer wieder empfohlen, sich das ganze Bild anzusehen, nicht immer nur die Ausschnitte der Realität, die Ihnen als Anleger, je nach aktuellem Kursverhalten, vor die Nase gehalten werden. Gerade jetzt ist das dringend anzuraten.
Kein Skeptiker in den Medien mehr weit und breit, Jubel allenthalben ohne ihn zu hinterfragen. Dazu keinerlei Nervosität: Carry-Trades? Kein Thema mehr (vorerst ja auch richtig). Quartalsbilanzen in den USA? Die werden mal wieder herausragend! Sagen doch alle Analysten (was soll denn auch die US-Konjunktur mit den Unternehmensgewinnen zu tun haben, nicht wahr). Und sowieso: US-Konjunktur? Na, die letzten Zahlen zeigten doch eindeutig, dass hier alles im Griff ist (Wo? Ich habe nichts gesehen). Und Inflation? Ist doch jetzt egal, schließlich brauchen wir doch gar keine Zinssenkungen mehr. Iran? War da was? Nicht unser Problem. Machen Sie sich Ihre Pro und Contra-Liste
Grundsätzlich kann ich Ihnen in dieser Börsenphase, die so unendlich positiv wirkt, dass es jedem alten Hasen die Löffel zwirbelt, nur eines raten:
Hinterfragen Sie Ihre Positionen immer und immer wieder. Wenn Sie halten oder sogar jetzt kaufen wollen: Können Sie dieses Vorgehen begründen? Haben diese Gründe Hand und Fuß? Gibt es Argumente, die auch morgen noch gelten – damit auch danach noch Investoren auftreten, die Ihre Positionen dann auch durch ihre Käufe in die Gewinnzone bringen?
Oder betrachten Sie doch vielleicht nur eine Seite der Medaille, geleitet von der Emotion, die dieser Tage so viele Anleger wieder in den deutschen Aktienmarkt treibt: Die Angst, die Rallye läuft nun ohne Sie, entstanden alleine aus dem Blick auf die steigenden Kurse?
Ich persönlich habe für meine eigene Für und Wider-Rechnung momentan nur einen Aspekt hinzufügen müssen: Euphorie. Und der gehört auf die Negativ-Seite. Aber zugegeben: Das ist nur meine persönliche Meinung.
Quelle: investor-verlag.de
PS: schöne Feiertage |