Kühlen Kopf in belastetem Umfeld bewahrenAn der Schwelle zur Weltmeisterschaft 2006 ist die Schweizer Fussballnationalmannschaft in Istanbul noch einen Fusstritt schwer einschätzbarer Höhe vom Ziel entfernt. Das ist per se eine sehr gefreute, weil vor nicht allzu langer Zeit kaum für möglich gehaltene Entwicklung. In seiner kontinuierlichen Verjüngung zieht das Team nicht nur Nutzen aus einer selbstsicher gewordenen einheimischen Spielergeneration, die sich früh in ausländischen Klubs als Berufsleute bewährt hat. Es profitiert auch von der zunehmenden Pluralität der Kulturen und Ethnien, die - besonders ehrgeizige - Söhne von Immigranten einbringen. Deshalb steht eine nationale Fussballauswahl, die sich in der 14-monatigen Qualifikationsphase durch verblüffende Stabilität ausgewiesen hat, gut zwei Jahre nach Erreichen der EM-Endrunde schon wieder in der Tür eines grossen Turniers. In den letzten 40 Jahren hat sie nur an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen. Dass trotz dem 2:0-Vorsprung niemand so recht weiss und vorauszusagen wagt, wie hoch die letzte Stufe ins «Paradies» ausfallen wird, hat viel mit der generell unfreundlichen Atmosphäre zwischen den beiden Parteien bzw. Ländern zu tun. Die Techtelmechtel und Provokationen der letzten Tage, um nicht von psychologischer Kriegsführung zu sprechen, gründen auch oder vor allem in den unterschiedlichen Mentalitäten und Temperamenten der Menschen vom Bosporus und aus Mitteleuropa - aber nicht nur. Die türkische Delegation fühlte sich letzte Woche in der Schweiz von Beginn weg schlecht behandelt und nicht wohl, holte durch ihren - im eigenen Land bedrängten - Selektionär zu pauschalen Rundumschlägen aus und wähnte sich nach verlorenem Match eigenartigerweise einem Komplott von sportlichen Gegnern, Verbandsbehörden (Fifa), Schiedsrichtern und Medien gegenüber. Das gemahnte eher an Selbstschutz als an verletzten Nationalstolz, denn Coach Terim und sein Begleittross wussten nur zu genau, dass ihnen eine Niederlage gegen den «kleinen Gegner» in der Heimat nicht verziehen würde. Die Empfindlichkeit und Dünnhäutigkeit war deshalb selbst unter Berücksichtigung der Tatsache übertrieben, dass es einem kleinen Teil des Publikums im Wankdorf an Anstand fehlte, als es die Hymne des Gastes mit Buhrufen und Pfiffen quittierte (was im Übrigen fast in allen Stadien anlässlich von Ländervergleichen vorkommt und deshalb nach Abschaffung dieser patriotischen Zeremonien riefe). Die Zwischenfälle in den Katakomben nach dem Match beruhten, so darf man annehmen, auf Gegenseitigkeit, denn auch in den Reihen der Gastgeber standen nicht nur Klosterschüler. Und dass die Boulevardpresse als Leib-Lektüre von Fussballfanatikern bei solchen Gelegenheiten auflagefördernd Öl ins Feuer zu giessen und polemisch-tendenziös zu berichten pflegt, wissen beide Parteien aus eigener Erfahrung. Anderseits ist kaum von der Hand zu weisen, dass die derzeitige Unverträglichkeit noch andere - politische Ursachen haben kann. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren wiederholt von Zerwürfnissen belastet, was aus Sicht der neutralen Schweiz doch eher ungewöhnlich ist. Der Historikerstreit um den kontrovers beurteilten Armenier-Genozid provozierte zuletzt wütende Reaktionen auf zuständiger türkischer Seite. In den Vorjahren hatten Protestkundgebungen von Öcalan-Anhängern, Kurdendemonstrationen oder Schüsse aus der Berner Botschaft unter dem Halbmond zu gegenseitigen Demarchen beigetragen. Wie schwierig und von Polemiken überlagert das politische Verhältnis der sich wirtschaftlich ungleich besser gewogenen Partner zuweilen ist, kommt auch durch die mehrfache Ausladung von Bundesräten durch die offizielle Türkei zum Ausdruck. In einem Moment, in dem sich diese Lage wieder entspannt hat, duellieren sich Türken und Schweizer im Fussball-Kleinkrieg. Während sich viele aufgeregte helvetische Medien durch den montäglichen Empfang in ihrer überhöhten Prognose eines «Gangs durch die Hölle» bestätigt fühlten, bemühte sich am Dienstag beispielsweise «Hürriyet» sichtlich um Schadensbegrenzung. Die Zeitung tadelte auf der Frontseite die unbotmässige Begrüssung, wies auf die Gefahren von möglichen Fifa-Sanktionen hin und sorgte sich um den Ruf des türkischen Fussballs. Etwas weiter hinten zitierte sie aus der NZZ und lieferte mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen und damit überspitzten Satz den Beweis, wie eine heissblütige, hin und her gerissene und fanatisierte Öffentlichkeit durch die Medien aufzuwiegeln ist. Es bleibt zu hoffen, dass besonnene Geister in der noch nicht restlos ausverkauften Fenerbahce-Arena «Sükrü Saraçoglu» Oberhand behalten und primär über Fussball gesprochen bzw. Fussball gespielt wird. Darauf haben sich die ohnehin vieles gewohnten Schweizer Profis und ihre Betreuer geeinigt. Und die stark reduzierte und etwas verängstigte Anhängerschar aus der Schweiz (Annullierung von Flügen am Dienstag) tut gut daran, sich unauffällig zu kleiden und zu verhalten. Sie befindet sich am Bosporus, nicht in Irland. Der Mannschaft und ihren in internationalen Einsätzen bewährten Spielern fehlt es weder an Klasse noch an Kampfgeist und Zuversicht, den Vorsprung zu behaupten. Auch wenn der Widersacher durch die Rückkehr von Auslandprofis wie Emre, Bastürk und Altintop zusätzlich motiviert wird und den eingefleischten Fans eine weitere bittere Enttäuschung nach dem Tiefschlag in Bern ersparen will. rei. (Istanbul) |