Was ist "es"? Von Volker Zastrow
Drei Generationen von Deutschen haben in der Bundesrepublik gelebt wie in einem Haus, das von den Nachbarn nicht unbedingt mit Wohlgefallen, aber mit Neid oder Bewunderung betrachtet wurde. Diese Zeiten sind vorüber. In den Kommentarspalten der Auslandspresse figuriert Deutschland - wie England in den Siebzigern - als der kranke Mann Europas. Statt Neid oder Bewunderung sprechen jetzt Häme oder Besorgnis aus den Zeilen. Dabei spiegeln die Zeitungen nur den Ansehens- und Einflußverlust wider, den Deutschland und seine Repräsentanten in der Politik erlitten haben. Nur die Deutschen haben es noch nicht bemerkt. Sie haben, wenn auch mit knapper Mehrheit, die Regierung wiedergewählt, die in gerade vier Jahren vermocht hat, soviel Kapital zu verspielen.
Kaum war die Wahlentscheidung getroffen, kassierten die alten und neuen Regierenden fast alles im Wahlkampf Gesagte und verkündeten das Gegenteil. Schlagartig schnellten die Sympathiewerte der Opposition wieder nach oben - das Volk fühlt sich belogen. Ja, wollte es denn nicht belogen werden? Daß Schröder seine veröffentlichte Meinung wechselt wie andere ihre Hemden, daß er den Leuten schamlos nach dem Munde redet, daß er selbst Lebensfragen der Nation dem Primat des tagespolitischen Popularitätswettbewerbs unterordnet, ist nun wahrlich keine Neuigkeit. Ein allemal hinreichend großer Teil des Volks prämiert diese Verhaltensweisen, die, durch Scham gemildert, im übrigen auch Oppositionspolitiker an den Tag legen. Soll man Schröder vorhalten, daß er abgebrühter als jeder andere - auch in seiner eigenen Partei - davon Gebrauch macht?
Die Regierungserklärung trug Schröder genervt und gelangweilt vor. Was schert ihn sein Geschwätz von heute? Der Wahltag ist vorüber, die Würfel sind fürs erste gefallen. Im Bundestag war Schröder noch nie in seinem Element. Und was seine Regierung im einzelnen tut, spielt für den Bundeskanzler keine überwältigend wichtige Rolle. Als die Oppositionsführerin Merkel sich in ihrer Rede mit der erklärten Absicht der Regierung beschäftigte, die Eigenheimförderung abzuschaffen, hielt ihr ein sozialdemokratischer Zwischenrufer entgegen, man wisse doch noch gar nicht, was am Ende komme. Das stimmt. Wie schon nach der ersten rot-grünen Koalitionsbildung, wie bei zahllosen Projekten der Koalition weiß man nie so recht, was gerade zurechtgewurschtelt, hingeschustert und wieder abgeschüttelt wird. Nicht einmal der damalige Wirtschaftsminister Müller konnte seiner "geringfügig beschäftigten" Ehefrau Auskunft geben, welche Folgen die Reform des 325-Euro-Gesetzes für sie haben würde. Auch jetzt ist schon wieder ein Teil der angekündigten Maßnahmen vom Kanzler kassiert worden.
Trotzdem ist im großen und ganzen erkennbar, was die Regierung vorhat: nicht, wie von Schröder angekündigt, "nachhaltige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben", sondern zusätzliche Belastung des produktiven Teils der Gesellschaft, insbesondere der Arbeiter und Angestellten, in einem noch nicht dagewesenen Umfang. Schröder und seine Koalition gehen nicht etwa den von ihm angekündigten und von den Wirtschaftsweisen empfohlenen Weg der Entlastung. Statt dessen belasten sie die ökonomisch tragenden Säulen der Gesellschaft bis zum Bersten. Man muß fürchten, daß Deutschland nun wie Japan auf Dauer in den wirtschaftlichen Niedergang geführt wird.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung mit Worten nicht gespart, die den Vorgang beschönigen sollen: Auf die Mittelschicht, also den überwiegenden Teil der Werte schaffenden Bevölkerung, kommen zusätzliche Belastungen von monatlich zwischen 200 und 400 Euro zu, der größte Teil davon in Gestalt zusätzlicher Lohnnebenkosten. Es werden also in etwa die letzten frei verfügbaren Einkommensanteile enteignet. Die Folgen für die Kaufkraft und damit für die Konjunktur sind absehbar verheerend. Dasselbe gilt wegen der weiteren Verteuerung der Arbeit für den Arbeitsmarkt: Entlassungen und Pleiten werden nicht ab-, sondern zunehmen.
Doch auch in der Arbeitsmarktpolitik setzt die Regierung auf Wortgeklingel. Da tönt der Kanzler, Schwarzarbeit sei krimineller Mißbrauch der Sozialsysteme. In Wirklichkeit mißbrauchen die Sozialsysteme die Arbeit und generieren so den schwarzen Arbeitsmarkt. Doch warum sollte Schröder nicht darauf vertrauen, daß er in Zukunft genauso wie in der Vergangenheit mit Worten statt mit Taten Erfolg haben wird - wenn er etwa in seiner Regierungserklärung darlegt, die "bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie" für Frauen werde Arbeitsplätze schaffen; oder wenn er die statistischen Effekte des Hartz-Programms, das sich inzwischen zur arbeitsmarktpolitischen Wunderwaffe der Regierung gemausert hat, zu ökonomischen erklärt?
Mit der Behauptung auf der einen Seite, die klassischen keynesianischen Instrumente stünden im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr zur Verfügung, und der andererseits erklärten Absicht, Leistungen und Ansprüche nicht zu kürzen, hat sich die Bundesregierung für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik entschieden, die der Rasenpflege durch das Auflegen von Bleiplatten gleicht. Man kann noch nicht einmal behaupten, daß sie ihr Vorhaben aufwendig tarnt. Sie führt Deutschland ins Desaster und ruft den Bürgern zu: Diesen Weg habt ihr gewählt!
Was nicht unzutreffend ist. Weit über die rot-grüne Klientel hinaus haben die Deutschen sich angewöhnt, den Staat als Verteilungs- und Verantwortungsagentur zu sehen. Schröders Politikstil paßt perfekt dazu. Wie niemand sonst verkörpert der Bundeskanzler einen Staat, der jedem zuruft, "daß es geht". Wozu Angela Merkel die kluge, aber unwillkommene Frage stellte: "Was ist ,es'?"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.2002, Nr. 252 / Seite 1 |