Anders als selbstverständlich
Es war einmal ein Mann. Dieser Mann ging – nachdem er viele Jahre vorher außerstande dazu gewesen war – mit offenem Blick durchs Leben.
Eines Tages sah er einen Menschen, dessen Blick anders als offen war. Der Blick, den dieser Mensch hatte, war trüb. Er war blind. Seine Augen waren ohne Funktion. Für diesen Menschen gab es nur das Dunkel. Nie würde er eine schöne Blume am Wegrand sehen können... nie einem anderen Menschen in die Augen sehen können...
Der Mann hatte das Gefühl, dass es anders als selbstverständlich war, Augen zu haben, mit denen man die Dinge, die um einen waren, sehen konnte.
Dieses Gefühl zeigte ihm... Augen zu haben, mit denen man sehen konnte, ...
Es war ein Geschenk.
Kurze Zeit später kam der Mann in Kontakt mit einem Menschen, der – wie jeder andere Mensch – zwei Ohren hatte. Was bei den Ohren dieses Menschen anders war...sie waren seit seiner Geburt ohne Funktion. Diesen Menschen umgab Stille. 24 Stunden am Tag. Tag für Tag. Nie war es ihm möglich, das Zwitschern eines Vogels zu hören...nie das Spielen von Musik...nie das Lachen eines anderen Menschen.
Der Mann hatte das Gefühl, dass es anders als selbstverständlich war, Ohren zu haben, mit denen man die Dinge, die um einen waren, hören konnte.
Dieses Gefühl zeigte ihm… Ohren zu haben, mit denen man hören konnte,...
Es war ein Geschenk.
Tags darauf kommunizierte der Mann auf andere als herkömmliche Art mit einem Menschen. Dieser Mensch hatte – wie jeder andere Mensch – einen Mund. Was bei dem Mund dieses Menschen anders war... aus ihm kamen keine Worte. Dieser Mensch war von Geburt an stumm. Aus seinem Mund kamen keine Worte, sondern nur unverständliche Laute. Er war gezwungen, sich mit Handzeichen verständlich zu machen. Dieser Mensch hatte noch nie ein Lied gesungen...noch nie einem anderen Menschen mit gesprochenen Worten seine Liebe deutlich machen können...
Der Mann hatte das Gefühl, dass es anders als selbstverständlich war, einen Mund zu haben, mit dem man Worte sprechen konnte.
Dieses Gefühl zeigte ihm... Einen Mund zu haben, mit dem man sprechen und singen konnte,...
Es war ein Geschenk.
Der Mann lief weiter. Zu ihm gesellte sich nach einiger Zeit ein Mensch. Dieser Mensch hatte keine Hände. Die Hände dieses Menschen wurden ihm bei einem Arbeitsunfall von den Armen abgetrennt. Nie mehr würde dieser Mensch nach etwas greifen können... Nie mehr würde dieser Mensch mit Fingerspitzen zärtlich über das Gesicht eines anderen Menschen streichen können...
Der Mann hatte das Gefühl, dass es anders als selbstverständlich war, Finger und Hände zu haben, mit denen man berühren konnte.
Dieses Gefühl zeigte ihm…Finger und Hände zu haben, mit denen man berühren konnte,...
Es war ein Geschenk.
Nach einer Weile kam ein Mensch zu den beiden, der keine Arme hatte. Sie waren ihm von einer Mine vom Körper gerissen worden. Nie mehr würde dieser Mensch ein Kind hochheben können, um es im Arm zu halten... Nie mehr würde dieser Mensch einen anderen Menschen umarmen können...
Der Mann hatte das Gefühl, dass es anders als selbstverständlich war, Arme zu haben, die man zärtlich um einen anderen Menschen legen konnte.
Dieses Gefühl zeigte ihm… Arme zu haben, mit denen man umarmen konnte...
Es war ein Geschenk.
Wiederum nach einer Weile kam ein weiterer Mensch dazu und ging mit ihnen. Genauer gesagt, er fuhr in einem Rollstuhl nebenher. Dieser Mensch hatte Beine ohne Funktion. Das Funktionieren der Beine hatte ihm eine schwere Krankheit genommen. Nie mehr würde dieser Mensch vor Freude in die Luft springen können... nie mehr auf einen Menschen in herkömmlicher Art zugehen können...
Der Mann hatte das Gefühl, dass es anders als selbstverständlich war, Beine zu haben, mit denen man laufen konnte.
Dieses Gefühl zeigte ihm... Beine, mit denen man laufen, rennen, springen konnte...
Es war ein Geschenk.
Der Mann sagte den Menschen Lebe wohl und ging seines Weges. Nach einiger Zeit kam ein junger Mensch auf ihn zu. Er erzählte dem Mann, dass er zwei Freunde habe, die früher miteinander befreundet waren und nun kein Verständnis mehr füreinander hätten.
Zu dem Mann kamen Gedanken. Sie zeigten ihm auf:
Wenn zwei Menschen… miteinander befreundet sind, dann sehen sie einander mit ihren Augen an und erkennen den anderen.
kein Verständnis füreinander haben, dann sehen sie sich an und schauen dabei aneinander vorbei.
miteinander befreundet sind, dann sind ihre Ohren offen für das, was der andere sagt. kein Verständnis füreinander haben, dann hören sie nur das, was sie selbst hören wollen.
miteinander befreundet sind, dann kommen die Worte die sie dem anderen geben, als Geschenk aus dem Mund.
kein Verständnis füreinander haben, dann kommen die Worte einzig und allein aus dem Mund, um sie dem anderen um die Ohren zu hauen.
miteinander befreundet sind, dann reichen sie einander die Hände und haben ein schönes Gefühl dabei.
ohne Verständnis füreinander sind, stecken sie ihre Hände in die Hosentaschen.
miteinander befreundet sind, dann umarmen sie einander.
ohne Verständnis füreinander sind, dann verschränken sie die Arme vor der Brust.
miteinander befreundet sind, dann benutzen sie ihre Beine, um aufeinander zuzugehen.
ohne Verständnis füreinander sind, dann bleiben sie stehen.
miteinander befreundet sind, dann fließen die Dinge zwischen ihnen.
ohne Verständnis füreinander sind, dann ist es anders. Anders als fließen, weil sich ein Hindernis zwischen ihnen aufgebaut hat.
In solch einer Situation gibt es die Möglichkeit, dass die beiden Menschen sich voneinander abwenden und die Dinge an anderer Stelle fließen lassen. Oder das Hindernis durch Worte umspülen. Mit Offenheit, Vertrauen und der Bereitschaft zum Verständnis. So lange, bis die Worte das Hindernis unterspülen und zur Seite schwemmen können, damit man wieder miteinander Freund sein kann. |