Deutschland entdeckt den Reiz der Kernkraft
Mit Atomkraft hatten die Deutschen abgeschlossen. Doch plötzlich kriegen Reaktoren wieder Strahlkraft. Sie sind sauber. Und vor allem billig.
Von Winand von Petersdorff
Kippt da was? Noch darf sich Deutschland vorkommen wie ein souveräner Geisterfahrer. Mag die Welt anders fahren, ich weiß, dass ich auf der rechten Spur bin. Finnland, Italien, Frankreich, Großbritannien und fast ganz Osteuropa machen Baupläne für neue Kernkraftwerke, selbst die Schweiz liebäugelt wieder mit Reaktoren. Vom Mittleren und Fernen Osten soll ganz geschwiegen werden, ebenso von den Amerikas. All diese Länder können sich auf ihre Bevölkerungen verlassen, die nie so wild und fanatisch gegen Atomkraft waren wie die Deutschen.
Doch nun verlieren auch die Bürger dieses Landes ihre Skrupel. Zum ersten Mal ist die stabile Mehrheit gegen Kernkraft ernstlich bedroht, wie jüngste Umfragen zeigen. Im März veröffentlichte die Lobbyorganisation Deutsches Atomforum eine repräsentative Emnid-Blitzumfrage, derzufolge 46 Prozent generell gegen Kernenergie sind und 44 Prozent dafür.
Das war schon überraschend, weil Störfälle in den Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel noch nicht lange zurücklagen. Doch die Aufmerksamkeit für solche Schadensfälle leidet offenbar unter einer deutlich verkürzten Halbwertszeit. Noch verwunderli er: Die Mehrheit will die Restlaufzeiten verlängert wissen. Der Atomkonsens, das größte Projekt der Ära Rot-Grün, hat keine Mehrheit mehr in der Bevölkerung.
Die Pro-Kernenergie-Fraktion greift in drei Wellen an. Welle Nummer eins sind die Klimaretter. "Man mag ja gegen Kernkraft sein, aber Tatsache ist: Sie emittiert nun einmal im Betrieb kein CO2", sagt der Cheflobbyist für Kernenergie, Walter Hohlefelder. Eine Energie- und Emissionsstudie der Unternehmensberatung A.T. Kearney sagt voraus, dass Deutschland das Ziel, seinen Kohlendioxidausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu drosseln, ohne Kernenergie nicht mehr erreichen kann. Auf dem letzten Klimagipfel auf Bali gehörte Kernenergie zu den Lösungsoptionen.
Die zweite Welle reiten die Patrioten. Sie warnen davor, dass sich das Land von Energieexporten aus dubiosen Ländern wie Russland oder dem Mittleren Osten zunehmend abhängig macht und damit auch politische Eigenständigkeit einbüßt. Schon jetzt importiert kein Land auf der Welt so viel Gas, Öl und Kohle wie Deutschland. Störungen der Gaslieferungen aus Russland vor zwei Jahren bestärken die Patrioten.
Die dritte Welle aber ist die gefährlichste für die Kernkraftgegner. Sie repräsentiert die Leute, die die Angst vor teurer Energie umtreibt. Diese bewegt die Frage: Wie teuer wird der Strom sein, wenn die Kernreaktoren abgeschaltet werden? Schreckensszenarien lassen ihre alten robusten Vorbehalte gegen Atomstrom plötzlich porös werden. Das Lager der Ausstiegsbefürworter schrumpfte laut ARD jüngst um acht Prozentpunkte.
Kein Wunder. Die Angst vor teurem Strom wird zur Zeit täglich gespeist: Die Deutsche Energieagentur prophezeit, mit hundert Dollar pro Fass Öl müsse man dauerhaft rechnen. Chef Stephan Kohler wird mit der beunruhigenden Aussage zitiert: "250 Dollar für das Fass sind möglich, aber keiner kann sagen, wann." Zum Wochenende hatte sich der Ölpreis auf rund 145 Dollar je Fass eingependelt. Am Ölpreis hängt der Gaspreis. Das hat sich herumgesprochen. Gas- und Kohlekraftwerke müssen einspringen, wenn die Atommeiler abgeschaltet werden.
Die Energieversorger machen eine einfache Rechnung auf. Strom aus abgeschriebenen Atommeilern kostet 3,5 bis 5 Cent pro Kilowattstunde. Die beliebteste alternative Energie, die Solarkraft, produziert den Strom zehnmal so teuer, Windenergie ist noch knapp doppelt so teuer wie das billigste konventionelle Kraftwerk.
Strompreise entstehen am Markt. Doch werden sich die Energieunternehmen hüten, länger Strom zu Preisen unterhalb der eigenen Erzeugerkosten anzubieten. Mit anderen Worten: Zwingt die Politik die Konzerne, ihre billigsten Kraftwerke abzuschalten, wird Strom automatisch teurer.
Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zu früher: Gestern war Energie ein Ökologiethema, heute wird es zur sozialen Frage. Die Grünen halten das als Partei der Besserverdiener und fundamentalen Kernkraftfeinde aus. Für die SPD bildet sich eine gefährliche Gemengelage. Sie will sich als Anwalt der kleinen Leute profilieren und muss ihnen teuren Strom verkaufen. "Spätestens an dieser Stelle wird sich auch die Sozialdemokratie fragen müssen, wie viele Opfer sie den Menschen abverlangen will. In Großbritannien und Finnland waren es sozialdemokratische Regierungen, die die Renaissance der Kernkraft eingeleitet haben", wendet der Atommanager Hohlefelder listig ein.
Die CDU dagegen spürt den Genossen Trend an ihrer Seite. Unionspolitiker wollen mit der Forderung nach längeren Laufzeiten für Atomkraftwerke in den Wahlkampf ziehen. Sie tüfteln an einem Sozialtarif für arme Familien, den Energiekonzerne im Gegenzug für längere Laufzeiten ihrer Meiler anbieten könnten. Deutschlands größter Stromproduzent RWE lobt schon einmal die grobe Richtung.
Die Politiker spüren, dass sich noch etwas geändert hat. Kernkraft war einmal ein Thema, das die Gesellschaft gespalten hat. Das ist Vergangenheit. Gewalttätige Demonstrationen in Brokdorf, Wackersdorf bestimmten die Nachrichten. An dezidiert linken Universitäten wie Göttingen, Tübingen, Heidelberg und Marburg war gesellschaftlich geächtet, wer sich für Kernkraft stark machte. Das Werk des Soziologen Ulrich Beck "Die Risikogesellschaft" war ebenso Pflichtlektüre wie die von Zeitungen sorgsam veröffentlichten Statistiken über den Strahlungsbefall von deutschen Waldpilzen. Und die Maßeinheit Becquerel für Radioaktivität war deutlich bekannter als die Maßeinheit Barrel. Tschernobyl lag damals eigentlich in Deutschland.
Und heute? Heute ist Kernkraft ein Thema unter vielen. Klimaerwärmung, China und der Terrorismus bestimmen die öffentliche Agenda mindestens genauso stark.
Dass alte Männer, die im Atomzeitalter groß geworden sind, sich jetzt trotzdem noch einmal zu Wort melden müssen, ist kein Wunder, sondern fast zwangsläufig. Sie kämpfen um ihr geistiges Erbe. Der einstige Kultsoziologe Ulrich Beck frischt mit Zeitungsartikeln seine Ideen von der Risikogesellschaft noch einmal auf.
Der Sozialdemokrat Erhard Eppler geht sogar noch weiter. Er offeriert der Union sogar längere Laufzeiten für die Kernkraftwerke, wenn im Gegenzug der Ausstieg aus der Atomenergie Verfassungsrang bekäme. Jüngere Gegner der Kernkraft verweisen darauf, dass die Uranvorkommen, die den Rohstoff für die Kernspaltung liefern sollen, in 70 Jahren am Ende sind. Doch Preissteigerungen für Uran beflügeln Minengesellschaften, alte Vorkommen wieder zu beleben und neue Vorkommen zu erschließen. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften spricht deshalb von einer Reichweite von bis zu 300 Jahren.
Die Zeit der Kernkraftgegner könnte ablaufen. In dieser Legislaturperiode sollten nach dem Atomkonsens eigentlich drei Atommeiler vom Netz gehen. Zwei Reaktoren lagen wegen langer Wartungs- und Reparaturperioden still. Sie laufen weit in die nächste Wahlperiode hinein. Auch der EnBW-Reaktor, bei dem es knapp wurde, schafft es nun die nächste, Vier-Jahres-Spanne. Nach der Bundestagswahl gibt es eine neue Regierung, eine neue Energiepolitik und immer noch viele Leute, die billigen Strom wünschen.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.07.2008, Nr. 27 / Seite 31
Quelle: www.faz.net ----------- MfG kiiwiipedia
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