Tod den Talkshows !
Miese Stimmung? Die Talkshow-Politiker sind mitschuldig
Die wirtschaftliche Lage ist keineswegs rosig; seit mehr als einem Jahrzehnt haben wir viel zu viele Arbeitslose. Dafür gibt es viele Gründe, darunter auch Versäumnisse und Fehler unserer gewählten Politiker. Aber die allgemeine Stimmung ist schlechter als die Lage. Auch dafür gibt es mehrere Gründe - vor allem die Schwarzmalerei in vielen Massenmedien und in öffentlichen Äußerungen mancher Manager an der Spitze von Unternehmen, Verbänden und Gewerkschaften. Hinzu kommt die undurchsichtige Verwischung aller Verantwortlichkeiten.
Wenn die Bürger unzufrieden sind mit der Lage, dann wollen sie wissen: Wer trägt die Schuld? Die Regierung, die Opposition, der Bundestag insgesamt? Oder der nicht vom Volk direkt gewählte Bundesrat? Oder doch nur die Führer der Volksparteien?
Tatsächlich redet jeder mit und hindert den anderen an einer klaren Entscheidung. Es ist höchste Zeit, daß von Gesetzes wegen die Zuständigkeiten und die Verantwortungen des Bundes und der Länder wieder klar und deutlich voneinander geschieden werden. Diese Aufgabe hat das Grundgesetz eindeutig in die Kompetenz des Bundestages gelegt, nicht aber in die Hände einer Föderalismus-Kommission, schon gar nicht allein in die Hände ihrer beiden Vorsitzenden. Weil die beiden sich nicht einigen konnten, bleibt alles so undurchsichtig wie zuvor. Wir Wähler und Bürger haben jedoch einen moralischen Anspruch darauf, daß unsere gewählten Abgeordneten entscheiden. Wir dürfen verlangen, daß sie in Rede und Gegenrede zur Entscheidung kommen.
Statt dessen ergeben sich manche der gewählten Abgeordneten nahezu täglich dem ergebnislosen Gerede in den Talkshows in fast allen Fernsehkanälen. Wir Bürger haben die Politiker in den Bundestag gewählt, nicht aber in die Talkshows. Ihre Aufgaben liegen im Parlament, diese heißen Gesetzgebung und Kontrolle der Bundesregierung. Die Abgeordneten haben von uns keinerlei Auftrag erhalten, allwöchentlich im Fernsehen in Soundbites miteinander zu reden über das, was man tun müßte, wozu man aber die notwendige Tatkraft und Courage nicht aufbringt. Unser Staat ist als parlamentarische Demokratie verfaßt. Es sind vor allen anderen leider die Politiker selbst, die entgegen dem Geist des Grundgesetzes unseren Staat zu einer Fernseh-Demokratie umfunktionieren. Die Orientierung gebende Parlamentsdebatte, die große Parlamentsrede und die ebenso gewichtige Gegenrede sind zur seltenen Ausnahme geworden.
Statt dessen wird im Leben mancher Politiker der Fernsehauftritt zur Hauptsache - und damit die Fähigkeit zur persönlichen Selbstdarstellung und auch zur oberflächlichen Kurzaussage. Weil derjenige, der sich dem Fernsehpublikum gefällig darzustellen weiß, populär werden kann, nehmen viele unserer gewählten Politiker in Kauf, daß das Parlament zur Nebenbühne verkommt.
Für den Bundeskanzler und die Oppositionsführerin, für die Minister und die Personen des Schattenkabinetts sind Reden außerhalb des Bundestages vielfach unvermeidlich, ebenso für alle Abgeordneten in ihren Wahlkreisen. Jedoch schadet die allgemeine Sucht nach Fernsehpopularität der demokratischen Meinungsbildung in unserer Gesellschaft. Sie beschädigt das Vertrauen des Publikums in die Ernsthaftigkeit der Politiker.
Das Vertrauen in die ganze politische Klasse ist heute geringer als jemals in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Man traut den Politikern den Willen zur Karriere zu, nicht aber genug Tatkraft für das Gemeinwohl. Auch deshalb breiten sich Ängste und schlechte Stimmungen aus. Die Titel, unter denen die Fernseh-Talkshows in den Programmen angekündigt werden, sind in großer Fülle negativ, sie suggerieren eine negative Sichtweise. Ein gewählter Politiker aber, der sich an Fernseh-Runden unter Titeln beteiligt wie "Deutschland bankrott" oder "Land ohne Zukunft", der vergibt seine Würde. Und weil die Talkshows nicht zum Handeln und zur Veränderung führen, vergibt er unbemerkt und schrittweise seine Glaubwürdigkeit.
Wir haben in langen Jahrzehnten den ökonomischen, politischen und geistigen Aufbau einer demokratischen deutschen Gesellschaft miterlebt. Wir haben seit Adenauers, Schumachers und Dehlers Zeiten die große zentrale Rolle des Parlaments miterlebt. Wir möchten daran festhalten. Wir möchten unsere mühsam errungene parlamentarische Demokratie bewahrt und ausgebaut erleben.
Wir wissen wohl, daß jede Demokratie auch Schwächen und Schattenseiten hat und daß man oft leichter gewählt wird, wenn man den Wählern nur das sagt, was sie gern hören wollen. Wir wollen jedoch heute keinen ethischen Verhaltenskodex für die Gewählten aufstellen. Nur eine einzige Bitte an alle Abgeordneten wollen wir aussprechen: Überlaßt die Fernseh-Talkshows den Wichtigtuern, ihr selbst habt im Parlament viel Wichtigeres zu sagen - und Wichtigeres zu tun.
Rainer Barzel war Bundesminister, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, Vorsitzender der CDU und Bundestagspräsident;
Helmut Schmidt war Fraktionsvorsitzender der SPD, danach Bundesminister und von 1974 bis 1982 Bundeskanzler.
Text: F.A.Z., 11.05.2005, Nr. 108 / Seite 10
MfG kiiwii
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