"Schröder bricht Versprechen"
Oskar Lafontaine, ehemaliger SPD-Chef und Finanzminister, greift in seinem neuen Buch den Kanzler und die Reformpolitik der Sozialdemokraten an. Zweiter Teil und letzter Teil des exklusiven Vorabdrucks.
von Oskar Lafontaine
Das zentrale Projekt der Reformpolitik, die Senkung der Lohnnebenkosten, ist ein einziger Betrug. Er ist charakteristisch für eine Politik, die sich in Lügen verstrickt, ohne es zu merken. Die Lohnnebenkosten werden für die Unternehmen gesenkt und in immer größerem Umfang den Arbeitnehmern allein aufgebürdet. In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003, mit der er die Agenda 2010 begründete, sagte Schröder: "Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist. Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen. In dieser Situation muß die Politik handeln, um Vertrauen wiederherzustellen."
Nun würde jeder, der noch normal denken kann, sagen, jetzt werden wir die Arbeitnehmer von Lohnnebenkosten entlasten und alles unterlassen, was den Rückgang des Konsums weiter verschärft. Aber das Gegenteil wird gemacht. Die Arbeitnehmer werden von zwei Seiten in die Zange genommen. Sie müssen die Anteile der Lohnnebenkosten übernehmen, die die Unternehmer nicht mehr zahlen wollen, und die Löhne werden nicht mehr erhöht, sondern gekürzt.
Wie kommt es nun, daß das Gegenteil von dem geschieht, was der "Reformkanzler" in seiner Regierungserklärung angekündigt hat? Was hatte er noch gefordert? "Die Beiträge müssen bezahlbar bleiben." Die Lösung des Rätsels ist einfach. Die Sprache setzt dem politischen Personal die Unternehmerbrille auf. Und aus der einseitigen und verkürzten Sicht der Unternehmer paßt dann alles zusammen. Die Lohnnebenkosten sinken für die Unternehmer, und die Gewinne steigen. Aber Vertrauen stellt man so nur bei den Arbeitgebern her, die die Agenda-Politik ja auch mit viel Beifall begleiten (...)
Bis zum heutigen Tag gelingt es nicht, den Reformen einen Sinn zu geben. Wo führen sie hin und wo sollen sie enden? Welches Leitbild liegt ihnen zugrunde? Der Grundgesetzauftrag, Deutschland zu einem demokratischen und sozialen Bundesstaat zu machen, gibt die Richtung jeder Reformpolitik vor. Bei allen neuen Maßnahmen ist zu prüfen, wird das Land dadurch demokratischer und sozialer? Die massive Umverteilung von unten nach oben ist aber unbestreitbar das herausragende Merkmal der heutigen Reformpolitik. Das ist unsozial und führt letztlich zu einem Verlust an Demokratie.
Es genügt doch wirklich nicht, die Steuern für die Wohlhabenden zu senken und durch Kürzungen im Sozialhaushalt das Budget auszugleichen. Reformer müssen schon eine Vorstellung davon haben, wie die Gesellschaft in einigen Jahren aussehen soll. Ob ausgesprochen oder nicht, viele Modernisierer liebäugeln mit einem Sozialdarwinismus, der das Überleben des Tüchtigsten (survival of the fittest) zur Leitidee hat.
Wir wollen Deutschland fit für die Zukunft machen, heißt es immer wieder, und die Nachdenklichen unter uns fragen sich, wer soll da eigentlich fit gemacht werden? Die pflegebedürftige Rentnerin, der kranke Arbeitslose oder das lernbehinderte Kind? Diese Menschen gehen dem Redner wohl nicht durch den Sinn, wenn er das englische Wort "fit" gebraucht, das das Wörterbuch mit "in guter körperlicher Verfassung, durchtrainiert" übersetzt. Bis zum Jahr 1998 wäre es beispielsweise unvorstellbar gewesen, daß ein SPD-Parteitag die Agenda 2010 gebilligt hätte. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes, die Streichung der Arbeitslosenhilfe, der Abbau des Kündigungsschutzes und die Aufhebung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung sind uralte Ladenhüter der Unternehmerverbände. Generationen von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern haben diese Vorschläge bekämpft, weil sie der Idee der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet waren und die Interessen der Arbeitnehmer vertraten. Begründet wird die Übernahme der Neuordnungsvorschläge der Wirtschaftslobbyisten durch alle im Bundestag vertretenen Parteien mit der Globalisierung. Diese habe dazu geführt, daß der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdet sei.
Keines dieser Argumente sticht. Auch andere Staaten wie Dänemark, Frankreich, Finnland, Österreich oder Schweden sind von der Globalisierung erfaßt. Und sie haben bessere Sozialleistungen als wir. Hätten wir bei uns die Steuer- und Abgabenquote dieser Länder, dann gäbe es Überschüsse in öffentlichen Kassen.
Die Deutschen können das Wort "Reform" nicht mehr hören. Auch diejenigen, die bereit sind, Abstriche bei sich selbst zu machen und Opfer zu bringen, streiken, wenn sie zur gleichen Zeit sehen, wie sich die oberen Zehntausend durch Gehaltssteigerungen und Steuererleichterungen immer besser stellen. Vorgesetzte, die in Belegschaftsversammlungen an die Beschäftigten appellieren: "Wir müssen den Gürtel enger schnallen, wir sitzen alle in einem Boot", ernten nur noch Gelächter.
Mit Reformen verbinden die Menschen im heutigen Deutschland nicht mehr eine Verbesserung des Bestehenden, sondern Lüge und Betrug. Der Reformer gilt vielen als Lügner und Betrüger, der sich selbst bereichert, dem Volk aber Löhne und soziale Leistungen kürzen will (...)
Bundeskanzler Schröder bricht nach Wahlen ebenso regelmäßig seine Versprechen. Weder für die Agenda 2010 noch für die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hatte er einen Wählerauftrag. Auch die anderen im Bundestag vertretenen Parteien verhalten sich nicht viel anders. Merkel und Stoiber beispielsweise versprachen den Wählern vor der Bundestagswahl 2002 das Blaue vom Himmel - und waren danach Schröders eifrigste Helfer beim Sozialabbau.
Wen wundert es da noch, daß das Vertrauen der Bevölkerung in Mißtrauen und Wut umschlug. An dieser Stelle soll auch auf das asoziale und betrügerische Verhalten vieler Mitbürger hingewiesen werden. Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug, Sozialmißbrauch und Schwarzarbeit sind an der Tagesordnung. Es gilt allgemein: Der Verfall des Vertrauens gefährdet unsere freiheitlich demokratische Grundordnung.
Wie grotesk aber die Situation mittlerweile geworden ist, zeigte sich, als Schröder, nachdem seine sogenannten Reformen von der Bevölkerung mit großer Mehrheit abgelehnt worden waren, zur Abwechslung den Moralapostel spielte und einen Mentalitätswandel forderte. Die Ansprüche der Menschen an den Staat seien zu hoch, so sagte der Kanzler, jeder nehme, was er kriegen könne, und Sozialmißbrauch und Steuerbetrug seien an der Tagesordnung. Er erhielt dafür von den Eliten viel Beifall. Nur übersahen seine Bewunderer, daß jemand, der die Wähler so oft getäuscht hat, das Volk nicht mehr Mores lehren kann. Und es fiel ihnen auch nicht auf, daß Schröder schon wieder einmal einen seiner vielen Haken geschlagen hatte.
War es doch seine Regierung, die über eine Steueramnestie die Betrüger mit Straffreiheit und niedrigeren Steuersätzen belohnt hatte. "Brücke in die Steuerehrlichkeit" nannten die Reformer dieses Machwerk. Darüber hinaus fehlte für die Aufnahme derartiger Ermahnungen das Gefühl des Volkes, es ginge in Deutschland gerecht zu. Nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, hat die Politik eine Chance, von den Wählern Opfer oder einen Mentalitätswandel zu verlangen (...)
Um soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, müssen wir uns von dem Marktfundamentalismus befreien, der das wirtschaftliche Denken unserer Zeit beherrscht. Der Glaube an die Märkte hat geradezu religiöse Züge angenommen. Er wird mit demselben Ausschließlichkeitsanspruch vertreten, mit dem der römische Papst ein Dogma verkündet oder mit dem die Mullahs oder Ayatollahs die Errichtung eines islamischen Gottesstaates und die Wiedereinführung der Scharia fordern. An die Stelle des lieben Gottes ist der Markt getreten. Aber dieser ist nicht barmherzig und gütig. Er vergibt seinen Schuldigern nicht. Er bringt die Menschen nicht dazu, einander zu helfen, im Gegenteil, er fördert das Konkurrenzverhalten.
Rein wirtschaftliche Überlegungen können nie zu einer Bestimmung dessen führen, was unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen wäre. Nur ein aus dem Inneren des Menschen kommendes moralisches Empfinden weist den Weg zu einer gerechten Gesellschaft. Debatten darüber, was das denn sei, erübrigen sich, wenn der Spitzensteuersatz für die Bezieher hoher Einkommen dreimal hintereinander gesenkt wird und gleichzeitig von Arbeitslosen, Rentnern und Kranken immer neue Opfer abverlangt werden.
Auch das zwanghafte Bemühen, das Wort "soziale Gerechtigkeit" durch "Chancengerechtigkeit" zu ersetzen, führt nicht weiter. Wenn Starke und Schwache aufeinandertreffen, dann führt die Abwesenheit von Regeln zur Unterdrückung der Schwachen, während das Gesetz dafür sorgt, daß die Schwächeren nicht zu kurz kommen. Eben deswegen kämpft die Linke für Regeln, die die Schwachen schützen sollen (...)
Die soziale Gerechtigkeit muß wieder zu einem durchgreifenden Ordnungsprinzip der modernen Gesellschaft werden. Sie trägt zur Befriedung bei und garantiert die Freiheit der Schwächeren. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es nur die Freiheit der Stärkeren. Ohne sie gibt es keine Gesellschaft, in der jeder das Recht auf ein menschenwürdiges Leben hat.
WAMS Artikel erschienen am 13. März 2005
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