PANORAMA Nr. 667 vom 20.04.2006 Sippenhaft? – die Familie Sürücü unter Generalverdacht Anmoderation Anja Reschke: „Sie haben es vermutlich mitbekommen, das Urteil des Berliner Landgerichtes im Mordfall Hatun Sürücü hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Dass jetzt ausgerechnet die Familie der Ermordeten das Sorgerecht für deren Sohn beantragt hat – darüber kann man sicher empört sein. Das ist die eine Geschichte. Aber die andere ist das Urteil selbst. Die älteren Brüder wurden freigesprochen, nur der jüngste verurteilt. Das wird nicht jedem gefallen, hat der Richter weise vorausgesagt. Zu sehr will die Öffentlichkeit glauben, dass die ganze Familie hinter dem Mord steckt. Aber dafür gibt es eben keine Beweise. Und trotzdem scheuen sich gerade Politiker und sogar ein Bischof nicht, weiter öffentlich zu verurteilen. Wie können sie auf der einen Seite verlangen, dass sich Ausländer integrieren und den Rechtsstaat achten sollen, wenn sie ihnen im konkreten Fall eben diesen Rechtsstaat nicht wirklich zugestehen. Auch der Bericht von Thomas Berndt und Robert Bongen wird nicht jedem gefallen.“ Der islamische Friedhof, Berlin Gatow. In diesem schmucklosen Grab mit der Nummer 95 ist Hatun Sürücü beerdigt. Die 23-jährige Deutsch-Türkin wurde ermordet vor über einem Jahr. 7. Februar 2005, gegen 21 Uhr: Hatun ist mit ihrem jüngsten Bruder Ayhan unterwegs. Plötzlich zieht Ayhan den Revolver. Drei Schüsse in den Kopf: Hatun Sürücü stirbt noch am Tatort. Das Motiv: Der westliche Lebensstil der Schwester, den Ayhan nicht akzeptiert. Er will – wie er später aussagt – die Familienehre retten. Vor dem Berliner Landgericht wird die Tat verhandelt. Viele Zeitungen schreiben von einem sogenannten Ehrenmord, den nach traditionellem Muster, die ganze Familie beschlossen habe. Eine Art Hinrichtung, weil Hatun sich gegen Zwangsheirat und Kopftuch wehrte? Angeklagt, neben Ayhan, zwei weitere Brüder. O-Ton Jörg Schindler, Prozessbeobachter Frankfurter Rundschau: „Mein Eindruck war schon der, dass im Grunde genommen viele erwartet haben, dass das Gericht nur das bestätigt, was ohnehin alle wussten vorher, nämlich dass der Familienrat diesen Mord beschlossen hat, dass alle drei Brüder beteiligt waren und dass eben die Strafe nur der Jüngste absitzen soll, weil er im Zweifelsfall die geringste Strafe zu erwarten hat. Das Problem ist nur, dass das Gericht eben nicht der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit entsprechen muss, sondern eben rechtsstaatlichen Prinzipien zu folgen hat, und das heißt eben, Schuld zweifelsfrei nachweisen zu können.“ Das Gericht konnte einen gemeinschaftlich geplanten Mord hier allerdings nicht zweifelsfrei erkennen. Das Urteil: 9 Jahre und 3 Monate Jugendhaft für den 20-jährigen Ayhan – hier ein älteres Bild. Er hatte die Tat gestanden. Freisprüche hingegen für seine beiden Brüder – für viele unerwartet. O-Ton Jörg Schindler, Prozessbeobachter Frankfurter Rundschau: „Das war schon zum Teil bizarr zu sehen, wie da von außen versucht wurde, Einfluss zu nehmen. Also insbesondere eben auch von Teilen der Medien, aber eben auch von Politikern, die zum Teil ungetrübt von jedem Sachverstand eben meinten, sich äußern zu müssen.“Das Gericht hat entschieden. Öffentlich aber wird ungerührt weiter verhandelt. Gestern verurteilte in der Bildzeitung sogar ein Bischof die sogenannte Ehrenmord-Familie – nachträglich. O-Ton Bischof Wolfgang Huber, Evangelische Kirche: „Niemand soll sich täuschen, auch wenn die Beweislage zu einer Verurteilung der älteren Brüder nicht ausgereicht hat, dass sie moralisch mitschuldig sind, dass wir es hier mit einer Art von kollektivem Verbrechen zu tun haben, bei dem unser Individualstrafrecht sowieso an Grenzen stößt, das ist überdeutlich.“ Eine Art kollektives Verbrechen? Ernst Gottfried Mahrenholz war über 10 Jahre Richter am Bundesverfassungsgericht. Für ihn gibt es kein öffentliches Nachverhandeln. O-Ton Ernst Gottfried Mahrenholz, Ehem. Bundesverfassungsrichter: „Die Äußerung von Bischof Huber im Fernsehen und in der Zeitung finde ich bestürzend populistisch. Es sind zwei Freisprüche erfolgt, und zwar auch vom Vorwurf der Anstiftung zu dieser Mordtat. Das muss man in erster Linie respektieren und nicht durch kollektive Etikette eine Art von Nachverurteilung durch die öffentliche Meinung erzielen. Das sollte der Respekt vor dem Rechtsstaat verbieten.“ O-Ton Bischof Wolfgang Huber, Evangelische Kirche: „Man kann doch sehen, dass das ein gemeinsames Vorhaben der ganzen Familie gewesen ist.“ PANORAMA: „Wo ziehen Sie da Ihre Informationen her?“ O-Ton Bischof Wolfgang Huber, Evangelische Kirche: „Also ich beteilige mich jetzt nicht an der Aufgabe, die dieses Gericht hatte. Würdige jetzt nicht die einzelnen Beweise. Aber wenn Sie so wollen, ist auch noch die Reaktion darauf ein Hinweis, die Interpretation, die die Familie selber gegeben hat. All das spricht eine deutliche Sprache.“ Diese Bilder sind gemeint, die lachende und freudige Familie Sürücü nach dem Freispruch von zwei Brüdern. Bilder, die die öffentliche Debatte um die Mitschuld der Familie zusätzlich anheizten. Lachen ein Geständnis? O-Ton Ernst Gottfried Mahrenholz, Ehem. Richter am Bundesverfassungsgericht: „Also dass man sich als Familienangehöriger über einen Freispruch freut, das halte ich für selbstverständlich. Dass da nun sehr gejubelt wird, das ist nun vielleicht eine Frage des Temperaments. Das kann auch mit dem Volk zu tun haben, aus dem diese Familie kommt. Aber das verdient nicht von vornherein eine Verurteilung.“ Und trotzdem: Boulevardzeitungen, zahlreiche Politiker und öffentliche Würdenträger kommen da zu einer anderen Beurteilung: Die Freude der Familie, eine Art nachträgliches Schuldeingeständnis. O-Ton Friedbert Pflüger, CDU Bundestagsabgeordneter: „Ich glaube, dass die Familie sich unerträglich verhalten hat. Sie hat den Eindruck vermittelt, als würde sie unser Land und die Rechtsprechung in unserem Land verhöhnen.“ O-Ton Sebastian Edathy, SPD Bundestagsabgeordneter: „Natürlich könnten sie unschuldig sein, aber durch ihr Verhalten, durch ihre Äußerungen legen sie anderes nahe.“ O-Ton Jörg Schindler, Prozessbeobachter Frankfurter Rundschau: „Man sieht eben nur, dass eine Familie sich darüber freut, dass zwei von drei Brüdern freigesprochen worden sind. Und das kann ja sein, dass sie unschuldig sind. Das wird ja immer ein bisschen außer Acht gelassen. Und insofern finde ich nicht, dass es verwerflich ist, darüber zu jubeln, dass sie freigesprochen worden sind.“ Trotzdem wird jetzt gefordert, die ganze Familie aus Deutschland abzuschieben oder zur Ausreise zu drängen - trotz aller Freisprüche vor Gericht. O-Ton Sebastian Edathy, SPD Bundestagsabgeordneter: „Meine Position ist, dass ich den Wunsch des Innensenators von Berlin für vertretbar halte und für nachvollziehbar, dass die Familie das Land verlässt.“ O-Ton Friedbert Pflüger, CDU Bundestagsabgeordneter: „Und ich finde, es muss ganz eindeutig sein: Wer Ehrenmorde befürwortet oder sogar begeht, der hat in Deutschland nichts zu suchen!“ Niemand aus der Familie hat bislang den sogenannten Ehrenmord an der Schwester Hatun öffentlich befürwortet. Trotzdem ist eine Abschiebung der Sürücüs in aller Munde. O-Ton Ernst Gottfried Mahrenholz, Ehem. Bundesverfassungsrichter: „Abschieben ist ein ganz erheblicher Tatbestand, der einen großen Eingriff in das Leben einer Familie leistet. Und zweitens ist natürlich die Frage dieser sogenannten Kollektivhaftung der Familie für das, was man als Ehrenmord bezeichnet, eine sehr zweifelhafte Angelegenheit. Das Gericht hat geurteilt und in einem Rechtsstaat, meine ich, hat man das in erster Linie zu akzeptieren und nicht dann gewissermaßen eine Art kollektiver Verurteilung der ganzen Familie nachzuholen, weil es eben nicht gleich gelangt hat vor Gericht.“ Die Familie Sürücü vor wenigen Tagen beim Spaziergang durch Berlin: von Fotografen verfolgt. Schuld hin oder her: Das Stigma der Ehrenmordfamilie in der Boulevardpresse werden sie wohl sowieso nie wieder los. Abmoderation Anja Reschke: „Nur um das noch einmal ganz kurz deutlich zu machen: Panorama behauptet nicht, die Familie Sürücü sei unschuldig. Das ist weder unsere Aufgabe noch haben wir dafür irgendwelche Beweise. Aber es ist nicht angemessen für Politiker und andere, sich über Gerichtsurteile hinwegzusetzen und Menschen, die freigesprochen wurden, weiter öffentlich für schuldig zu erklären oder gar aus dem Land jagen zu wollen. Urteile sind Sache der Justiz. Und noch ist der Fall Sürücü ja nicht beendet. Die Staatsanwaltschaft hat schließlich Berufung eingelegt.“ Bericht: Thomas Berndt, Robert Bongen Schnitt: Markus Ortmann, Dietrich Müller Quelle: http://www.ndrtv.de/panorama/archiv/2006/0420/ehrenmord_berlin.html |