Vogelgrippe in China „Wir werden systematisch angelogen” Von Joachim Müller-Jung
21. November 2005 Zunächst wußte keiner im Saal, was die Zahlen bedeuten sollten. Eine schlichte Schautafel, gespickt mit Ziffernblocks, die am linken und oberen Rand von chinesischen Schriftzeichen eingeklammert waren. Fragende Blicke. Dann öffnete Virusforscher Masato Tashiro seinen Kollegen die Augen. „Was Sie hier sehen, ist ein inoffizieller, unveröffentlichter Bericht aus China zur Situation der H5N1-Infektionen beim Menschen.” Eine systematische Aufstellung, die ihm von verläßlicher Quelle zugespielt worden sei, als er vor wenigen Tagen nach China einreiste.
Tashiro war im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Provinz Hunan unterwegs. Sein Labor am Nationalinstitut für Infektionsforschung in Tokio war als eine der asiatischen Schaltstellen von den Vereinten Nationen mit Nachforschungen zur Vogelgrippe in Asien und zuletzt besonders in China betraut worden. Nun also stand er da am Wochenende im Hörsaal III des Marburger Universitätsklinikums vor einigen der angesehensten Virologen der Welt und konnte offenbar nicht anders: Statt den deutschen Nestor der Influenzaforschung, Hans Dieter Klenk, mit ein paar warmen Worten in den Ruhestand zu verabschieden, schockierte er die Versammlung mit seinem unautorisierten Datensouvenir aus dem Reich der Mitte.
Geheimnisvoller Informant
Wenn freilich stimmt, was sein geheimnisvoller chinesischer Informant in dem Dokument vermerkt hatte, stellt die Vogelgrippeepidemie in China alle bisher gesammelten Statistiken in den Schatten. Offiziell führt das WHO-Register weltweit 71 Todesopfer, etwa doppelt soviel sollen sich bislang durch allzu engen Kontakt mit Geflügel angesteckt haben, China gibt ganze drei Infizierte an. Und bisher war überhaupt nur ein - als zweifelhaft geltender - Fall in Asien bekanntgeworden, in dem das Virus von einem Menschen auf einen anderen übertragen worden sein soll - ein wackeliges Anfangsszenario für die gefürchtete Pandemie.
Der chinesische Medizinerreport nun dokumentiert gleich mehrere Dutzend H5N1-Ausbrüche in der Bevölkerung. Insgesamt kam Tashiro „auf mindestens dreihundert nachgewiesene Todesfälle in China”, mehr als dreitausend Menschen seien auf Isolierstationen gelandet, und in sieben Fällen setzte man hinter die Zahlenkolonne der Infizierten den Vermerk „Mensch-zu-Mensch-Übertragung wahrscheinlich”. Der japanische Virologe glaubt fest an die Verläßlichkeit der Quelle und seiner Daten.
Besorgniserregender als die Sars-Epidemie
Und zugleich ist er sicher, daß die Welt über die wahre Situation in China konsequent im unklaren gelassen wird. „Wir werden systematisch belogen.” Tatsächlich seien die Geheimhaltung und die Repressionspolitik der Pekinger Regierung noch besorgniserregender als zu Beginn der Sars-Epidemie, klagte Tashiro. China spiele mit dem Feuer. Mindestens fünf medizinische Mitarbeiter, die über die Lage in den Provinzen berichten sollten, seien verhaftet worden, publikationswillige Forscher würden mit Strafen bedroht.
Vor knapp acht Jahren forderte H5N1 zum ersten Mal einige tausend Opfer unter Geflügel und einige wenige unter Menschen - in Hongkong. Warum sollte der Erreger dann die ganzen Jahre, da die zweite, die dritte und mittlerweile schon die vierte Welle über Asien hinweggezogen sind, ausgerechnet um das restliche China mit seiner allseits bekannten Affinität zum Federvieh einen Bogen machen? Das ist keine Frage an die Virologen, wie in Marburg klargestellt wurde, sondern die Frage der Virologen an die Politik.
Text: F.A.Z., 21.11.2005, Nr. 0 / Seite 1 |