Gastkommentar: So entschlossen die pakistanische Regierung Amerika unterstützt, so viele Sympathien genießen die Taliban in der Bevölkerung
Mit jeder neuen Bombe auf Kabul wächst der Hass
Von JAMAL MALIK
Jamal Malik geboren in Pakistan, lehrt muslimische Religionswissenschaft und Kulturgeschichte an der Universität Erfurt.
Das Land der Reinen, Pakistan, das frühere Britisch-Indien, befindet sich seit 1947 zwischen Kräften, die einen islamischen Staat fordern – im Gegensatz zu einem Staat für Muslime, wie es sich der Gründungsvater Muhammad Ali Jinnah eigentlich vorgestellt hatte – und den Interessen der nationalen Eliten, die sich dem westlichen Lager zugewandt haben. Die amerikanische Präsenz in Pakistan hat dabei seit den sechziger Jahren des 20sten Jahrhunderts tiefe wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Spuren hinterlassen, unterstützt durch verschiedene Modernisierungsmaßnahmen diverser Regime, ohne dabei das ethnisch, linguistisch, sozial und religiös heterogene Land integriert zu haben. Auch die Islamisierungspolitik Zia ul-Haqqs (1977–1988) war ein Versuch, islamische und nicht-islamische Elemente miteinander zu integrieren und so die staatliche Macht in noch unberührte Bereiche durchzusetzen. Islamisierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel die Einführung eines staatlich geregelten Almosensystems, und die staatliche Unterstützung und Anerkennung von religiösen Schulen waren probate Mittel für diese Politik, die keine strukturellen Änderungen herbeizuführen gedachte, aber eine probate islamische Legitimation des Regimes bereitstellen konnte.
Die Spannung zwischen westlichem Einfluss und lokalen Lebensweisen trat deutlich in Erscheinung, als seit den 80iger Jahren die Zahl der religiösen Schulen sprunghaft anzusteigen begann. Die Schulen bieten im Gegensatz zum staatlichen oder gar zum privaten Erziehungswesen kostenlose Bildung mit einem kulturimmanenten Lehrplan, der nicht nur überholte Inhalte vermittelt. Dieses alternative Bildungswesen produzierte auch viele Mudschahedin, die gegen die sowjetischen Invasoren kämpften. Die Schule in Akora Khattak nahe Peschawar ist nur ein, wenn auch prominentes Beispiel dafür. Sie verfügt über ein weit reichendes Netzwerk von Loyalitätsbeziehungen, das bis nach Afghanistan, Usbekistan und Turkmenistan reicht.
Die Aussicht auf Anerkennung der Urkunden durch die staatlichen Behörden und die finanzielle Unterstützung durch unter anderem den staatlich verwalteten Almosenfonds haben auch die Zahl der Absolventen der religiösen Schulen geradezu in spektakulärer Weise in die Tausende getrieben, allerdings ist für sie von Staats wegen eine Integration in den nationalen Arbeitsmarkt kaum vorgesehen. Lediglich das pakistanische Militär bot ihnen – zumal unter Zia – Möglichkeiten einer Arbeitsaufnahme.
Für die große Masse der Religionsschüler blieb der Zugang zum Arbeitsmarkt verstopft. Unter diesen Umständen bedurfte es wenig rhetorischer Fähigkeiten, diese arbeitslosen Schüler für einen wie auch immer gearteten „Glaubens“-Krieg zu gewinnen. Der Tod auf dem Wege Gottes wird laut einiger radikaler Theoretiker mit dem unmittelbaren Eintritt ins Paradies belohnt – obgleich die Mehrheit der Islamgelehrten sich einig ist, dass Selbstmord und Märtyrertod im Islam nicht erlaubt sind.
Aber man kann nicht die vielfältigen Loyalitätssysteme und Differenzkriterien wie z.B. Ethnie, Sprache, Familienbünde, Zugehörigkeit zu mystischen Ordensverbänden unterschätzen, die das Band auf beiden Seiten der Grenzen entlang der Nordwestprovinz und Belutschistan über die Zeit verfestigt haben. Einige Religionsverbände wie zum Beispiel die Deobandis, die die pakistanische Partei, die Jamiat-e Ulama-e Islam, unterhalten, pflegen schon seit dem 19. Jahrhundert enge Verbindungen zu entsprechenden Institutionen in Afghanistan.
Auf Grund dieser vielfältigen Verflechtungen ist es nicht verwunderlich, dass es gegenwärtig zu Ausschreitungen kommt, in denen sich junge – meist arbeitslose – Männer mit den staatlichen Autoritäten messen wollen. Die Taliban (Religionsschüler) sind aus diesen Schulen hervorgegangen. Sie sollten mit staatlicher und internationaler Unterstützung gegen die Muschahedin kämpfen und dafür Sorge tragen, dass ein stabiles Afghanistan die mannigfaltigen – neben geostrategischen auch wirtschaftliche – Interessen der beteiligten Kräfte garantierte.
Eine Verbindung zwischen Pakistan, Taliban und den USA war scheinbar gegeben, die Verbindung soll über den pakistanischen „Inter Services Intelligence“ (ISI) laufen, der selbst eine Reihe von Islamisten beherbergt.
Die fortschreitende Verarmung der breiten Bevölkerung in Pakistan und Afghanistan aber hat zu einem Rückschlag geführt und sich als Bumerang erwiesen. Die Taliban entpuppten sich nämlich als radikal-reaktionäre Kräfte. Wegen ihrer menschenverachtenden Politik sind sie in Pakistan nur bedingt erwünscht, insbesondere die Mittel- und Oberschicht lehnen sie ab, ebenso die höheren Chargen des Militärs. Die Regierung hat unlängst nicht nur die Eintreibung von Geldern für die verschiedenen Dschihad-Parteien in Pakistan verboten, sondern auch die Existenz dieser Parteien selbst.
Die Religionsführer sind aber weiterhin in der Lage, durch gezielte Nutzung des islamischen Repertoires unzufriedene Kräfte zu bündeln gegen den Feind von außen, gegen den Westen, der so viel Leid und Ungerechtigkeit über die Länder des Orients gebracht hat, und seiner „Allierten“. Anti-israelische Rhetorik spielt dabei genauso eine Rolle wie die Aufhetzung gegen den Erzfeind Indien. Militärische Postulate und die Figur eines Retters wie Usama bin Laden sind zentrale solidaritäts- und identitätsstiftende Elemente.
General Pervez Musharraf, der 1998 durch einen Putsch an die Macht kam, ist auf Grund dieser Spannungen in ein ernst zu nehmendes Dilemma geraten, wenn er der USA gestattet, Pakistan als Basis für eine konzertierte militärische Operation gegen die Taliban zu nutzen. Wegen des internationalen Drucks und wegen der in Aussicht gestellten Aufhebung der Sanktionen für die Nukleartests von 1998 war freilich auch nichts anderes zu erwarten. Ungeachtet dieser Unterstützung aber erkennt Pakistan als einziger Staat das Taliban-Regime noch an.
Es stellt sich aber die Frage, ob die Aufhebung der Sanktionen tatsächlich für das bis aufs Mark verschuldete Land, das weit mehr als die Hälfte des Budgets für den Militärhaushalt aufwendet, aus seiner Misere retten kann. Die militärische Operation hat ja erneut Tausende und Abertausende von Afghanen über die 1 500 Kilometer lange Grenze nach Pakistan getrieben. Es ist anzunehmen, dass sie sich zu den ohnehin dort lebenden zwei Millionen Flüchtlingen gesellen und damit das Konfliktpotenzial zusätzlich steigern werden. Ihre Versorgung ist nicht gesichert, von sozialer Integration ganz zu schweigen. Es wird in Pakistan deshalb zu einer Zerreißprobe kommen.
Die Religionsparteien spielen eine nicht zu vernachlässigende Rolle in diesem Konflikt, der weite Kreise zieht, die über einen regionalen Konflikt hinausreichen: Mittelfristig könnte Pakistan der zweite Verlierer dieses Konfliktes sein, weil es aus sich heraus weder die finanziellen Kapazitäten aufbringen kann, noch über die notwendigen Institutionen verfügt, um das angestaute und sich weiter verschärfende Konfliktpotenzial zu neutralisieren. Stattdessen droht ein Bürgerkrieg, der das ohnehin instabile Land weiter desintegrieren kann. Die Grenzen können entlang ethnischer, linguistischer und religiöser Linien verlaufen, wenn sich Paschtunen und Afghanen auf der einen Seite mit Punjabis und Sindhi auf der anderen auseinander setzen. Mit dem Islam hat dies alles freilich wenig zu tun, außer, dass er die entsprechend notwendige Symbolik dazu bietet.
HANDELSBLATT, Dienstag, 09. Oktober 2001 |