Kleiner Nachtrag zu Familie W. gefunden in der SZ von gestern.
Letzte Ausfahrt Kerner
„Die Wallerts“ – Eine hochgerüstete Medienmaschine dreht in Göttingen eine Seifenoper mit verdammt wenig Handlung
Diese Geschichte handelt von einem Einfamilienhaus. Von den Menschen, die drin wohnen und von denen, die drumherum leben. Im Göttinger Stadtteil Geismar klebt das Haus an einem sonnenbeschienenen Hügelrücken. Bürger wohnen in solchen Gegenden; nicht reich, aber arm noch weniger. Die blassgelbe Fassade des Hauses könnte vielleicht einen neuen Anstrich vertragen, die Besitzer sind jedoch entschuldigt: Sie hatten andere Sorgen in diesem Sommer.
„Unglaublich!“, war sein erstes Wort in Freiheit. Das reichte denen, die sich auf dem Rollfeld um ihn herum drängten, natürlich nicht. Und so kramte der bärtige Schlaks, nach 20 Wochen Geiselhaft auf den Philippinen unter uns Medienmeute geraten, einen Vergleich hervor, den wir verstanden: „Das ist wie im Film!“ Sein Elternhaus ist zur Kulisse geworden, er selber wird in der Schlussszene die Hauptrolle spielen: Der Marc.
Leise knarrt die Jalousie
„Die Rückkehr der Wallerts“ heißt das Stück, dessen dritter und letzter Teil dieser Tage in Göttingen gegeben wird. Nach seinen Eltern Renate und Werner ist Marc der letzte aus der Familie, den die philippinischen Rebellen von Abu Sayyaf freigelassen haben. Die sind die Schurken in diesem Stück.
Die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die für Geld oder aber ihren Glauben andere zu enthaupten bereit sind, wirkt ziemlich skurril in Geismar, einem Dörfchen, in dem Jalousien leise in der Spätsommersonne knarren. Das Böse schaut hier sozusagen nicht oft vorbei. Irgendjemand hat immerhin die Scheibe des Kaugummiautomaten zerdeppert. Das Haus mit der Nr. 55 ist berühmt. Als Renate Wallert aus dem Dschungel zurückkam, schubsten sich Kamerateams und Journalisten auf der engen Straße; dasselbe passierte anlässlich Werner Wallerts Heimkehr, und auch Marc Wallert wird keine Chance haben, den sturzfliegenden Geiern zu entkommen.
Heiderose Niemeyer, Doktorin der Biologie, wohnt schräg gegenüber in dem Haus mit der Nummer 58. Mit Renate Wallert ist sie befreundet.
Seit Ostern hat Frau Dr. Niemeyer eine Art Schnellkurs in Medienkunde durchlaufen. Scheu vor Mikrofonen kennt sie nicht. „Ich habe mich zwar nicht aufgedrängt“, sagt sie, „aber die anderen hier in der Straße waren wohl auch froh, dass die Journalisten sie in Ruhe gelassen haben“. So baute ein TV-Team nach dem anderen in Heiderose Niemeyers Wohnzimmer seine Kameras auf, glücklich über irgendeinen O-Ton, denn allzu Privates gab die Quelle Niemeyer nicht preis. Vor allem als eine öffentliche Diskussion darüber losbrach, ob Renate Wallert ihr Leiden simuliert habe, „wollten viele Journalisten nur noch Negatives hören“, sagt sie. („Alles nur Kino?“, schlagzeilte damals misstrauisch die Bild am Sonntag. )
Sie habe dagegen in den Interviews stets den Gedanken des „Miteinander, nicht des Gegeneinander“ herausgestellt, der den Geiseln auch am ehesten weitergeholfen hätte: „Aber das wurde immer rausgeschnitten“, beklagt die Nachbarin. Sie sieht sich wegen ihrer Kooperation mit den Medien gelegentlich Anfeindungen ausgesetzt. Sogar manche Journalisten beißen die Hand, die sie gefüttert hat, nur weil die Leckerlis nicht weltexklusiv waren.
Selbst am vergangenen Wochenende, als sich Marc Wallert auf den langen Weg von den Südphilippinen über Libyen nach Südniedersachsen machte, verstopften Übertragungswagen die Straße, obwohl der Nachrichtenwert für jeden erkennbar nahe Null lag. Renate und Werner Wallert hatten angekündigt, sich erst äußern zu wollen, wenn die Familie wieder komplett sei. Vor allem gelangweilte Radio- und Fernsehmenschen melkten derweil Zitate. Die Befragten „freuen sich“ entweder oder aber „sind erleichtert“, dass auch Marcs Leben nicht mehr bedroht sei; völlig überraschend vertrat niemand die Ansicht, dass die Geiselhaft ruhig noch länger hätte dauern dürfen. Die hochgerüstete Medienmaschine, die in Geismar gastierte, jaulte auf wie ein Formel-1-Bolide beim Start – aber stets im Leerlauf.
Der Eine-Million-Dollar-Mann
Am Samstagmittag ließ dann eine Sensation die Journalisten aus ihren Autos springen, in denen sie stundenlang still vor sich hin geschwitzt hatten. Um exakt 13. 42 Uhr öffnete Werner Wallert (!) einem Kurier (!!) die Tür (!!!), um einen Brief (!!!!) anzunehmen.
Dann schlenderte der Lehrer, dessen Wert irgendwelche Dschungeldesperados schlankweg auf eine Million Dollar taxiert haben, an die Filmer und Schreiber heran. Und sprach zu ihnen. Freundlich fragte er nach, warum sie denn „immer noch hier lauern“ müssten. Sofort war er umringt. Hoch reckten sich die Galgen. An denen waren Mikrophone festgemacht.
Irgendwie schienen die verdutzten Journalisten aber nichts damit anfangen zu können, dass da plötzlich eine Person der Zeitgeschichte in einem fliederfarbenen Anzug vor ihnen stand. „Marc geht es gut – immer noch?“, fragte eine Fernsehfrau, und Werner Wallert lächelte nachsichtig: „Ja, es geht ihm gut – immer noch. “ Mehr gebe es aber gar nicht zu sagen. „Wissen Sie, ich kann auch nicht viel anderes tun, als mir die Informationen aus dem Fernsehen zu holen“, sagte Wallert der Reporterin vom Fernsehen. „Und was sehe ich? Ich sehe Sie, wie Sie hier vor dem Haus stehen und melden, dass die Lage unverändert ist. “ So ist das. Werner Wallert bleibt seiner Linie treu. Einerseits ist er darauf bedacht, seine Würde zu wahren, indem er der Berichterstattung Grenzen setzt; als ihn Fernsehfritzen am Sonntag bis in die Kirche verfolgen wollten, forderte er sie höflich auf, „draußen zu bleiben“.
Andererseits akzeptiert er offenbar grundsätzlich, dass ihn die Umstände in den Zustand zeitweiser Berühmtheit katapultiert haben; der Gymnasiallehrer weiß genau, dass ihn das grelle Scheinwerferlicht, das jetzt so nervt, auf Jolo mit davor bewahrt hat, auf ewig im Schatten des Dschungels zu verschwinden. Einmal zeigte er den vor seinem Haus wartenden Journalisten sogar die beiden Reissäcke, in denen er während der Gefangenschaft seine Habe herumgeschleppt hatte, „damit Sie was zum Fotografieren haben“.
Werner Wallerts Sohn Dirk hat die Fernsehrechte an der Geiselgeschichte an Sat 1 veräußert. Das Team, das die Dokumentation montiert, schlüpfte am Samstagnachmittag in das Haus, wütendes Zischen der lieben Kollegen im Rücken, und ward für Stunden nicht mehr gesehen. Hier ein Werner Wallert, der Diskretion zu buchstabieren weiß, dort ein Privatsender, so lärmlaut und knallbunt wie alle anderen – wie mag das zueinander passen?
Am heutigen Mittwoch geht es für die ganze Familie schließlich und natürlich zu Johannes B. Kerner, dem Gefühlswolf für Promis aller Art, die verprügelt, verlassen oder entführt wurden. Titel der Johannes B. Kerner Show spezial im ZDF: „Familie Wallert – Das Ende eines Albtraums“. Hoffentlich ist der Albtraum für die Familie Wallert danach wirklich zu Ende.
Vielleicht hilft es ja auch, das Haus neu zu streichen. Im nächsten Frühjahr wird das jedenfalls keine Nachricht mehr sein.
:-))) Dampf |