SPIEGEL
Wie ein explosives Gerücht die SPD aufwühlt
Von Carsten Volkery
Die Reaktionen der SPD fielen heftig aus. Als heute das Gerücht vom Kanzler-Rücktritt in Berlin die Runde machte, fielen schnell Worte wie "Stinkbombe" und "Dreckschweine" - ein Zeichen, wie dünn die Nerven in der SPD derzeit sind.
Schröder und Müntefering: "Erstunken und erlogen"
Berlin - So viel Aufmerksamkeit hat das Münchner Büro der Nachrichtenagentur ddp wohl noch nie erhalten. Mit der Meldung, die um 10.05 Uhr heute morgen über den Ticker lief, löste ein Redakteur ein bundespolitisches Beben aus.
Unter Berufung auf ein führendes SPD-Mitglied berichtete ddp, dass im Parteivorstand der SPD bereits über eine Alternative zu den Neuwahlen nachgedacht wird. Es gebe ein "ernsthaftes Szenario", demzufolge Gerhard Schröder als Kanzler zurücktreten und durch SPD-Chef Franz Müntefering ersetzt werden solle. Dieser Plan sei im Parteivorstand "detailliert besprochen" worden.
Es dauerte nicht lange, da kamen die ersten Dementis aus dem Willy-Brandt-Haus in Berlin. Lars Kühn, der Sprecher des Parteivorstands, nannte die Meldung "totalen Unfug". Dann surrte das Fax von Generalsekretär Klaus Uwe Benneter aus der Maschine: "Erstunken und erlogen" sei die Darstellung.
Es wurde recht schnell deutlich, dass dieser Plan B tatsächlich nicht besprochen worden war - zumindest nicht in der Sitzung des Parteivorstands am Montag. Mehrere Teilnehmer der Sitzung schworen gegenüber SPIEGEL ONLINE Stein und Bein, nie davon gehört zu haben. Das ist schon deshalb plausibel, weil eine derart heikle Frage kaum in dem 45-köpfigen Gremium ausgebreitet würde.
Doch dass die Meldung einen Nerv getroffen hatte, wurde im Laufe des Tages immer klarer. Denn die SPD beließ es nicht bei den Routine-Dementis aus dem Willy-Brandt-Haus. Die Reaktionen wurden immer heftiger, je länger die Meldung im Raum stand. Präsidiumsmitglied Andrea Nahles sprach von "gequirltem Mist" und einer "Stinkbombe". Michael Müller, der Sprecher der Parlamentarischen Linken, bezeichnete die Urheber der Meldung im "Kölner Stadtanzeiger" als "Dreckschweine".
SPD-Vorstandsmitglied Ludwig Stiegler äußerte gegenüber SPIEGEL ONLINE den Verdacht, dass es sich um eine "Desinformationskampagne" der CSU handele. Nachdem auch die "Netzeitung" mit Stiegler gesprochen hatte, verbreitete sie, dass CSU-Generalsekretär Markus Söder der Informant sei - eine Darstellung, die sie nach einem Beschwerdeanruf von Söder sogleich wieder zurückrief.
Am späten Nachmittag mischte sich auch Schröder selbst ein. Er sei "wirklich nicht dazu da, allen groben Unfug zu kommentieren, der von dem einen oder anderen Ihrer Kollegen in die Welt gesetzt wird", sagte er vor Journalisten in Bitterfeld. Wie Stiegler äußerte er den Verdacht, "dass der Ursprung dessen, was Sie Gerücht nennen, durchaus zurecht in oppositionellen Parteizentralen zu suchen ist".
Die ungewöhnlich heftigen Reaktionen der SPD zeigen, wie nervös die Partei ist. "Der Effekt von Schröders Neuwahl-Coup hat genau 24 Stunden gehalten", sagt ein Insider. Jetzt herrsche Kopflosigkeit.
Das Gerücht konnte seine explosive Kraft gerade deshalb entfalten, weil es nicht unplausibel ist. Zwei Wochen nach der Ankündigung von Neuwahlen ist in der SPD nichts mehr undenkbar, und die Zeit bis zum 1. Juli ist noch lang. Dann will Schröder mit der Vertrauensfrage den Spekulationen über das weitere Vorgehen ein Ende setzen. Ob er die Fliehkräfte in der Partei bis dahin bändigen kann, ist eine offene Frage.
Auch beweisen die wütenden Dementis beileibe nicht, dass nicht doch einige in der SPD über einen Kanzleraustausch tuscheln. Dass es unerkannte Heckenschützen in den eigenen Reihen geben kann, hat zuletzt die Niederlage von Heide Simonis in Schleswig-Holstein bewiesen. Ein Abgeordneter, vermutlich aus der SPD, hatte der Ministerpräsidentin in vier Wahlgängen seine Stimme nicht gegeben.
Die Frage bleibt also: Wer hat das Gerücht in die Welt gesetzt? Der Münchner ddp-Korrespondent wollte seine Quelle gegenüber SPIEGEL ONLINE nicht preisgeben, nur, dass es sich um ein "vertrauenswürdiges führendes SPD-Mitglied" handele. Zuvor war bereits von einem Mann aus Bayern die Rede.
Sowohl Stiegler als auch Franz Maget, die beiden einzigen männlichen Vorstandsmitglieder aus Bayern, weisen jegliche Verstrickung weit von sich. Stiegler sagte SPIEGEL ONLINE, es sei "abstrus" zu glauben, er würde so etwas in Umlauf bringen. Maget sagte, er sei bei der Sitzung am Montag von Anfang bis Ende dabei gewesen, und es sei kein Wort zu dem angeblichen Plan gefallen. Auch sonst habe er nie davon gehört.
Doch selbst wenn nie bekannt wird, wer das Gerücht gestreut hat: Die Wirkung ist da. Um 17.10 Uhr wurde die Meldung auch in der "Tagesschau" verlesen. Der Neuwahl-Coup war eigentlich dazu gedacht, die drohende Selbstzerfleischung der Partei zu verhindern. Zwei Wochen später scheint das Gegenteil eingetreten zu sein.
MfG kiiwii
|