"Wenn es die Funktion des Vorurteils ist, den urteilenden Menschen davor zu bewahren, jedem Wirklichen, das ihm begegnet, offen sich exponieren und denkend gegenübertreten zu müssen, so erfüllen die Weltanschauungen und Ideologien gerade diese Aufgabe so gut, dass sie vor aller Erfahrung schützen, da in ihnen ja angeblich alles Wirkliche irgendwie vorgesehen ist. Gerade diese Universalität, die sie so deutlich von den Vorurteilen trennt, die immer nur partieller Natur sind, zeigt deutlich an, dass nicht nur auf die Vorurteile, sondern auf die Maßstäbe des Urteilens und auf das in ihnen Vor-Geurteilte kein Verlass mehr ist, dass sie buchstäblich unangemessen sind. Dies Versagen der Maßstäbe in der modernen Welt - die Unmöglichkeit, das, was geschehen ist und täglich neu geschieht, nach festen, von allen anerkannten Maßstäben zu beurteilen, es zu subsumieren als Fälle eines wohlbekannten Allgemeinen, sowie die mit dieser eng verbundene Schwierigkeit, für das, was geschehen soll, Prinzipien des Handelns anzugeben - ist oft als ein der Zeit inhärenter Nihilismus beschrieben worden, als eine Entwertung aller Werte, eine Art Götterdämmerung und Katastrophe der moralischen Weltordnung. All solche Interpretationen setzen stillschweigend voraus, dass Menschen das Urteilen überhaupt nur da zugemutet werden könne, wo sie Maßstäbe besitzen, dass die Urteilskraft also nicht mehr sei als die Fähigkeit, das Einzelne richtig und angemessen dem ihm zugehörenden Allgemeinen, über das man einig ist, zuzuordnen. ... Der Verlust der Maßstäbe, der in der Tat die moderne Welt in ihrer Faktizität bestimmt und durch keine Rückkehr zum guten Alten und keine willkürliche Aufstellung neuer Werte und Maßstäbe rückgängig gemacht werden kann, ist also eine Katastrophe der moralischen Welt nur, wenn man annimmt, Menschen wären eigentlich gar nicht in der Lage, Dinge an sich selbst zu beurteilen, ihre Urteilskraft reiche für ein ursprüngliches Urteilen nicht aus." |