Berlin Verbotene Stadt Der junge Ali weiß, wer die Typen sind, denen die Straße gehört. Wer die Drogen verkauft und wer im Knast saß. Im Soldiner Kiez und im Neuköllner Rollberg-viertel stößt die Polizei an ihre Grenzen. Am Mitt-woch wurde hier ein Beamter erschossen.
Berlin (Der Tagesspiegel, 26.04.2003) - Geschätzte 1,90 hoch, geschätzte 110 Kilo schwer, ein bisschen Fett, viele Muskeln, verpackt in eine Daunenjacke, die ihn noch breiter wirken lässt, und eine von diesen modernen Hosen: Armee-Stil, weiß. Das Modell eines Türstehers, dunkler Teint, schwarze Haare, steht am späten Nachmittag auf der Neuköllner Hermannstraße herum, winkt hinüber zu ein paar älteren Männern, plaudert mit einer Frau mit Kopftuch und Kinderwagen. Dann nimmt der Schrank einen jungen Mann von geringerer Masse begrüßungshalber in den Schwitzkasten und klopft ihm mit der Faust ein paar Mal auf den Solarplexus. Zum Thema Im Koma: SEK-Beamter darf nicht für tot erklärt werden Türsteherszene: Wer die Tür hat, hat die Macht Wedding: Erneuter SEK-Einsatz Es ist die übliche Machoshow, die hier gegeben wird, üblich in einer Gegend, in der junge Männer massenweise Zeit haben. Und es sind die jungen Machos, die die Stimmung machen. Weil das so ist, stellt sich oft dieses Gefühl der Anspannung ein, diese Ahnung von Ärger, der ganz schnell handfest werden kann, wenn man es am nötigen Respekt fehlen lässt. Der Schrank dreht gerade einem kleinen Jungen den Arm um. Vielleicht ist der ihm mit seinem Aluroller über den Fuß gefahren.
Ältere Leute wie die beiden Betreiber eines Zigarettenladens sagen auf ganz altmodische Weise, was ihnen hier im Rollbergviertel zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße missfällt: dass man andauernd angepöbelt wird. Aber das ist natürlich nicht das Problem von Neukölln-Nord, nur ein Symptom. Die wirklichen Probleme werden hier nicht selten mit Schusswaffen geklärt. Am Mittwoch ist hier ein Polizist erschossen worden, als ein Spezialeinsatzkommando einen mutmaßlichen Messerstecher festnehmen wollte.
Nach eigenen Regeln
Der 33 Jahre alte Yassin Ali-K., der sich nun für den Mord an einem Polizisten zu verantworten hat, personifiziert, wenn man so will, alle Probleme von Neukölln-Nord. Er gehört zur „libanesisch-kurdischen Kriminalitätsszene“, wie es bei der Polizei heißt. Die Mitglieder der Szene betätigen sich unter anderem im Türsteher-Milieu. Das Besondere daran ist die familiäre Organisationsform. Die Familie Ali-K. ist in der Gegend südlich der Hermannstraße, in den Häusern an der Kienitzer Straße gut bekannt – als Mieter. Sie und andere arabische Großfamilien bewohnen die 70er-Jahre-Neubauten der Gesellschaft „Stadt und Land“ an der Kienitzer Straße. Die Erdgeschosswohnung von Haus 33, in der der Polizist am Mittwochnachmittag tödlich getroffen wurde, ist eine von Dutzenden, die für die Wohnungsbaugesellschaft „ein Riesenproblem“ darstellen. So sagt es ein Mitarbeiter, der die Gegend und die Häuser und die Leute hier im Rollbergviertel seit vielen Jahren kennt – und deshalb seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will.
„Sozialer Brennpunkt“ heißen solche Gegenden bei Politikern. Besonders in zwei Berliner Vierteln stößt die Polizei an ihre Grenzen: Neben dem Rollbergviertel ist es der Soldiner Kiez in Wedding. Hier liest man kaum noch deutsche Namen an den Geschäften. Bärtige Männer sitzen davor, trinken Tee, schwatzen, spielen mit den Perlenketten. Nordeuropäer fallen auf im Soldiner Kiez, vor allem, wenn sie ziellos durch die Straßen streifen, in der Hand einen Notizblock halten. Plötzlich ist man von Jugendlichen umringt. Sie lachen, kichern, geben an. „Ich klau’ auch, Handys, Uhren und Laptops“, ruft einer in Baseballjacke. Vielleicht 17 Jahre alt, Goldkette, die Haare zurückgegelt. Sein Kumpel spuckt Kürbiskern-Schalen auf den Asphalt, setzt noch eins drauf: Schlägereien, Messerstechereien, Schießereien, das gebe es hier jeden Tag. „Machen Sie jetzt ein Foto von mir?“
Michael Bahr grinst. Wie könnte der Polizist einen solchen Auflauf auch ernst nehmen? Bahr arbeitet seit fast 20 Jahren im Weddinger Kiez. Rein statistisch, erklärt er auf seiner Polizeiwache tapfer, gebe es im Soldiner Kiez keine erhöhte Kriminalität. Eine Zigarette qualmt im Aschenbecher, der Kaffee wird kalt. Bahr weiß, dass die Statistik nur die halbe Wahrheit sagt, die ganze hört sich so an: „Vieles regeln die Anwohner unter sich.“
Wie am 25.Januar 2002: Da quietschen gegen 17 Uhr 30 vorm Pizza-Lieferservice plötzlich die Bremsen. Zwei Männer springen aus einem BMW, bewaffnet mit Maschinenpistolen und einem Säbel, stürmen den Imbiss der Brüder Ahmed und Bilal A. Begleitet von Schimpfkanonaden schießt der Syrer Ayman S. auf die verschreckten Brüder, trifft aber nicht. Innerhalb weniger Minuten versammelt sich eine Menschenmenge vor dem Lieferservice, jetzt stehen sich Ahmeds und Aymans Lager gegenüber, vielleicht 150 Leute. Als die Polizei versucht, die Meute zu trennen, sind sich plötzlich wieder alle einig: „Das ist unser Kiez, und ihr habt hier nichts verloren!“, bekommen die Polizisten zu hören.
1996 haben Bund und Länder das Programm „Die soziale Stadt“ ausgerufen und bislang rund 250 Krisengebiete ausgewiesen. Zu den Kriterien gehörten Sozialhilfebezug, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Zahl der Schulabbrecher und Gesundheitszustand. Der Soldiner Kiez zählt dazu, er ist in Sachen Krise spitze. „Die Situation wird eher schwieriger als besser“, sagt Sozialstadtrat Christian Hanke (SPD). Es ist hier nicht anders als im Rollbergviertel: Wer kann, zieht weg. Dafür haben türkische, kurdische und arabische Großfamilien ganze Häuserzeilen übernommen. Parallelgesellschaften, sagt Stadtrat Hanke. „Da weiß weder die Politik noch die Polizei, was wirklich passiert.“
Die Türken ziehen weg
Noch etwas haben der Soldiner und der Rollberg-Kiez gemeinsam: Die Häuser hier sind nicht schlecht. Es gibt Spiel- und Sportplätze, es gibt Grün, es gibt Platz zum Rollerfahren, Fußballspielen – und zum Pöbeln. Ein Polizist vom Abschnitt in der Rollbergstraße sagt über die Gegend, sie sei „nicht belasteter als der Rest von Neukölln“. Der Mann von „Stadt und Land“ kann belegen, was das heißt: Bei der Wohnungsvergabe seien „von 100 Interessenten 90 Transferleistungsempfänger“. Nicht alle leben im Rollberg-Kiez vom Arbeits- oder vom Sozialamt. Doch besteht die Mieterschaft von „Stadt und Land“, wie der Fachmann sagt, zur großen Teilen aus „Alkis, Arabern und Türken“ – und ausgerechnet die Türken zögen weg, wenn sie könnten. Die Türken sind für „Stadt und Land“ so etwas wie der brave Mittelstand. Sie ziehen weg, so erzählt der Mann, um ihren Kindern und sich selbst den Ärger mit den Arabern zu ersparen. „Die Araber“, sagt er, „sind fitter.“ Die bekämen vom Sozialamt, was sie wollen. Was mit ihrem Status zusammenhängt: Sie sind Flüchtlinge aus dem Libanon oder aus den kurdischen Gebieten des Irak oder Syriens – es ist schwer, sie zurückzuschicken.
„Mindestens zwei Jahre Knast muss du haben, damit sie dich abschieben“, sagt der 22 Jahre alte kurdische Türke aus dem Rollbergkiez, der abends mit zwei Kumpel durch die Gegend läuft. Der kleine Staffordshire-Irgendwas–Kampfhundmischling zu seinen Füßen guckt wütend hinter einem sehr tiefliegenden, sehr breiten, sehr lauten Audi her. „Zigeuner mag er nicht“, sagt der Kurde zur Erklärung. Ein freundlicher junger Mann, der sich wie ein Veteran der Hiphop-Goldkettenkultur zu fühlen scheint. Vor ein paar Jahren habe er ständig Ärger gehabt und will hier weg, wenn er mal Vater ist. Sein Problem: „Schule nicht gepackt“. So sei das, wenn man als „Schleimer“ beschimpft werde, sobald man lerne – der Gruppendruck ist stark. Jetzt verkauft er Zeitungen. Sein Kumpel sagt, hier im Kiez seien „vielleicht 20 Prozent der Leute legal“, womit er gesetzestreu meint. Die Jungs aus dem Rollberg-Kiez sähen die großen Autos und das Geld der Männer aus den Großfamilien, sagt der Polizist vom Abschnitt. Sogar bei Festnahmen zeige sich noch die Bedeutung der Clans – am Polizeiaufgebot. Die Kids und die Jungen sähen: „Das sind hier die Kiezkönige.“
Ali, 19, aus dem Soldiner Kiez, weiß, wer die Typen sind, „die glauben, dass die ganze Straße ihnen gehört“. Er weiß, wem hier die Drogengeschäfte nachgesagt werden. Wem die Prostitution. Wer schon einmal im Knast saß. Aber mehr will Ali nicht verraten, auch wenn ihm langweilig ist, weil er schon ganze Tage vorm Telecafé in der Drontheimer Straße abgehangen hat. „Ich bin doch nicht verrückt“, schnaubt Ali. Über ihm werben bunte Zettel im Schaufenster: Bangladesch 33c. Dhaka 33c. Kamerun 36c. Istanbul 14c.
Man hört die Bässe schon von Weitem wummern: Mit Tempo 70 rauscht der schwarze BMW vorüber. So eine offene Provokation der Polizei wird hier schon manchmal übersehen. „Selbst ein Gespräch mit einem Falschparker ist nicht mehr möglich, weil man Angst vor Gewalt hat“, sagt einer in Uniform. Oft sei es schon vorgekommen, dass er und seine Kollegen zu einer Schlägerei gerufen wurden. Dass sie die Kneipe betraten, das Opfer blutend am Tresen lehnte – und abwinkte: Bin nur vom Stuhl gefallen, danke.
Schüsse in der Nacht
Doch wenn im Kiez Schüsse durch die Nacht hallen, schaltet sich auch das Berliner Landeskriminalamt (LKA) ein. „Fragt man nach den Gründen, so reichen diese von verletzter Ehre über Streit um die Mitgift und so genannten Geschäftsstreitigkeiten bis zur Blutrache“, sagt Markus Henninger, Inspektionsleiter für Organisierte Kriminalität im LKA. Oft gehe es bei den Schießereien aber vermutlich um Revierkämpfe von Dealern und Zuhältern – nur lässt sich das der deutschen Polizei ja schlecht erklären.
Im Soldiner Kiez kommen sie ohnehin besser ohne die Deutschen aus. Hier haben die Türken ihre eigene Bank, ihren eigenen Rechtsanwalt, ihr eigenes Teppich-Center. Die meisten Streitigkeiten schlichtet ein „Friedensrichter“, nur Anfang März hatte der offenbar versagt: Als sich in einem anderen Telecafé die Familien der Türkin Esra C. und des Albaners Hasan M. trafen. Die beiden jungen Leute lieben sich, doch die Familien sind dagegen: Erst schrien die Männer durch den Laden, man schubste sich auf dem Gehweg, schließlich fielen Schüsse. Es gab kein Happyend für Romeo und Julia aus Wedding: Der Halbbruder von Esra kam mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus. Hasans Bruder bekam einen Schuss ins Gesäß.
„Ja, ja. Ich hab davon gehört“, sagt die Wirtin der „Hexeninsel“ und schiebt die Sonnenbrille ins Haar. Ihre Gäste betreten die Tür unter einem riesigen Totenschädel, es sind die wenigen Deutschen, die übrig geblieben sind. Der Alkohol hat in vielen Gesichtern seine Spuren hinterlassen. „Wir sind totale Rassisten“, erzählt die Wirtin so beiläufig, als spräche sie übers Wetter. Eines allerdings hätten Deutsche und Ausländer gemeinsam, sagt sie. Dann schaut sie die Soldiner Straße hoch und runter, winkt dann aber ab. „Nein, ich kenne hier niemand, der Arbeit hat.“ (Von Katja Füchsel und Werner van Bebber)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/pubs/aktuell/pageviewer.asp?TextID=25427 |