"Zuckerpreise als Zeichen eines überregulierten Rohstoffs Von Esmé E. Deprez
25. August 2009 Lufkin - im amerikanischen Bundesstaat Texas - ist eine Kleinstadt nördlich von Houston und seit 1932 Sitz des Familienunternehmens Atkinson Candy. Das wird nicht mehr lange so sein, denn die Zuckerpreise erreichen Höhen, die man seit fast 30 Jahren nicht erlebt hat.
Zucker mache etwa 60 Prozent der Zutaten aus, die zur Herstellung von Atkinsons Süßwaren verwendet werden, wie zum Beispiel die Hausprodukte Chick-O-Sticks und Long Boys, erklärt Eric Atkinson, Chef des Unternehmens und Enkel des Firmengründers. Weil das amerikanische Landwirtschaftsministerium Kontingente auf die zulässigen Zuckerimporte erlassen hat, war das Unternehmen in der Vergangenheit gezwungen, mitunter das Doppelte dessen zu bezahlen, was seine internationalen Wettbewerber zahlen müssen.
Der Preis treibt die Unternehmen aus dem Land
Die Zuckerpreise in den Vereinigten Staaten haben sich im laufenden Jahr fast verdoppelt, so dass Atkinson entschieden hat, wohl oder übel in Guatemala eine Neugründung vorzunehmen, wo er von den niedrigeren Zuckerpreisen eines freien Marktes profitieren kann.
„Made in America ist nach wie vor etwas wert, aber die Kosten sind rasant gestiegen, und die Verbraucher ziehen konsequent die Sparbremse. Preissteigerungen akzeptieren sie nicht“, sagt Atkinson. „Wenn es nur um die Löhne ginge, könnte ich hier bleiben. Es ist der Zuckerpreis, der uns aus dem Land treibt.“ Atkinson argumentiert, dass „protektionistische“ Maßnahmen, die den amerikanischen Zuckerbauern und -produzenten helfen sollen, am Ende den einheimischen Lebensmittel- und Süßwarenherstellern das Wasser abgraben.
Ölspekulationen trieben Preis
Der Kurs des aktivsten Zucker-Terminkontrakts stieg von 11,70 Dollar am 24. Oktober 2008 auf 22,97 Dollar am 12. August 2009. Dieser Anstieg um 96 Prozent vollzog sich in einer deutlich kürzeren Zeitspanne als die Verdoppelung des Benzinpreises in den Vereinigten Staaten auf über 4 Dollar für die Gallone (3,8 Liter) im letzten Sommer.
Das gab den amerikanischen Lebensmittelunternehmen - die meisten von ihnen viel größer als Atkinson Candy - neue Munition. Seit Jahrzehnten laufen sie gegen die Quotenpolitik des Landwirtschaftsministeriums Sturm. In Reaktion auf die jüngsten Preisspitzen hat eine Gruppe großer amerikanischer Lebensmittelfirmen am 5. August einen Brief geschrieben, in dem sie Landwirtschaftsminister Thomas J. Vilsack dringend ersuchen, die Zuckerkontingente zu erhöhen. Die Firmen, unter ihnen Conagra Foods, General Mills, Hershey und Kraft Foods, warnten, dass die Untätigkeit der Regierung zu höheren Verbraucherpreisen, Stellenabbau und „Marktverzerrungen“ führen könnten.
„Wir beobachten die Entwicklungen der Märkte nach wie vor genau“, sagte der Sprecher des Landwirtschaftsministeriums, Justin DeJong, gegenüber BusinessWeek als Antwort auf das Schreiben. Nicholas Fereday, ranghoher Ökonom bei LMC International, einem im Landwirtschaftssektor tätigen unabhängigen Beratungs- und Rechercheunternehmen, sagt, dieser Brief sei „nichts Neues - wieder einmal ein Anlauf, eine Politik zu durchbrechen, mit der [diese Lebensmittelfirmen] extrem unzufrieden sind“. Und: „Sie könnten einfach den derzeitigen Markttrend nutzen, um ihre Position zu stärken.“
Regierungen bremsen den Handel
Verzerrungen des internationalen Zuckermarktes sind ebenfalls nichts Neues. Auch wenn Zucker nicht die Schlagzeilen erfährt wie Öl und Gold, kann er doch viel volatiler sein. „Zucker ist der Rohstoff, der durch die Regierungen am meisten geschützt wird, in den sie sich am häufigsten einmischen“, berichtet Mike McDougal, Senior Vice-President für den Geschäftsbereich Brasilien bei Newedge, einer globalen Brokerage-Firma.
Laut Schätzung des Landwirtschaftsministeriums wird der Weltmarkt von 2009 bis 2010 etwa 160 Millionen Tonnen Zucker produzieren. Aber viele der produktionsstärksten Länder erlassen Handelsbarrieren und Kontingente, die Preis, Angebot und Nachfrage auf dem Binnen- wie auf dem Weltmarkt gleichermaßen verzerren. Die Vereinigten Staaten schränken die Zuckerimporte ein, um die Binnenmarktpreise hoch zu halten, begrenzen die einheimische Produktion und etablieren durch ein Kreditprogramm für amerikanische Produzenten praktisch einen Mindestpreis. Die indische Regierung schreibt vor, wie viel des Rohstoffs die Zuckerhändler wie lange in Besitz haben dürfen, um das Horten von Vorräten zu verhindern. Auch sie etabliert eine Preisuntergrenze und verlangt von den Zuckerfabriken, dass sie 10 Prozent ihres Produkts an den Staat verkaufen, damit es verbilligt an die Armen verkauft werden kann. In Thailand kontrolliert die Regierung die Inlandspreise und erhebt hohe Zölle auf Zuckereinfuhren. Die chinesischen Provinzverwaltungen legen ebenfalls Mindestpreise fest, und die chinesische Nationale Kommission für Entwicklung und Reformen hat in Abstimmung mit der chinesischen Volksbank Gewerbekredite vergeben und zusammen mit dem Finanz- und dem Handelsministerium Tausende Tonnen Zucker aufgekauft.
„Die Quotenregelungen sind unsinnig, weil die Gründe für ihre Existenz durch interessierte Parteien völlig [zunichte] gemacht wurden“, sagt Philip Corzine, ein Landwirtschaftsberater. „Die meisten Leute wissen gar nicht, dass Zucker reguliert wird.“ Zu diesen interessierten Parteien gehören ländliche Farmer, Hersteller von alternativen Süßstoffen (wie zum Beispiel fruktosereicher Maissirup, dessen Preis sich oft im Verbund mit dem Zuckerpreis bewegt), Zuckerverarbeiter, die Lebensmittelfirmen und natürlich Politiker, die auf der Jagd nach Wahlkampfspenden sind.
Der Einfluss des Wetters
Wie bei vielen landwirtschaftlichen Produkten hängt auch die weltweite Zuckerversorgung stark vom Wetter ab. Das, was man gemeinhin unter Tafelzucker versteht, wird größtenteils aus Rohr- und Rübenzucker gewonnen, während fruktosereicher Maissirup, ein anderer Süßstoff in flüssiger Form, aus Mais gewonnen wird. Schwere Regenfälle in Brasilien, dem weltgrößten Produzenten und Exporteur, haben in diesem Jahr die Ernteerträge schrumpfen lassen (zu viel Wasser im Rohr führt dazu, dass es an Gewicht zunimmt und wächst, wodurch der Succhrosegehalt abnimmt). In Indien hat man mit dem entgegengesetzten Problem zu kämpfen: Dort ist nicht genügend Regen gefallen, um den Anbau während des in diesem Jahr unerwartet trockenen Monsuns ausreichend zu kultivieren. Dürre in Mexiko hat ebenfalls zu unerwarteten Ernteausfällen geführt.
Darüber hinaus ist die dem Zuckerrohranbau gewidmete Fläche in den vergangenen Jahren sowohl in Brasilien als auch in Indien kleiner geworden, nachdem niedrigere Preise indische Bauern zwangen, in andere, profitablere Kulturen zu diversifizieren, und die brasilianische Regierung angeordnet hat, dass ein Großteil seines Zuckerrohrs für die Produktion von Ethanol, einem Benzinersatz, verwendet wird, das zunehmend rentabler wurde, als der Trend hin zu alternativen Kraftstoffen an Fahrt gewann.
Die Zuckernachfrage hat in den vergangenen Jahren zugenommen, was zum Teil auf gestiegene Einkommen in den Entwicklungsländern zurückzuführen ist. Laut Prognosen des Landwirtschaftsministeriums wird der weltweite Verbrauch in den Jahren 2009-2010 im Vergleich zum Vorjahr um 1,5 Millionen Tonnen wachsen.
Die Bauern reagieren darauf, indem sie von einigen alternativen Anbauprodukten und Verwendungszwecken zum Zucker zurückkehren. Etwa 42 Prozent des brasilianischen Zuckerrohrs sind in diesem Jahr für die Zuckerproduktion vorgesehen - das sind 2 Prozent mehr als im Jahr davor. Aber im Gegensatz zum Mais braucht Zuckerrohr Jahre, bis es geerntet werden kann, weshalb das Umschwenken auf dieses Produkt Zeit und Geld kostet. Die globale Wirtschaftskrise macht diesen Übergang noch schwieriger. Brasilien versucht derzeit, seine Fabriken zu modernisieren und neue zu bauen. „Deshalb braucht die Produktion länger, bis sie reagieren kann, besonders wegen der Kreditkrise“, erklärt McDougal. „Brasilien hatte alle Kräfte auf die Steigerung der Produktion konzentriert, aber jetzt ist das Programm zum Stillstand gekommen.“ Laut Aussage des Landwirtschaftsministeriums sind 40 Prozent der brasilianischen Fabriken, die 2009 die Produktion aufnehmen sollten, bis 2010 aufgeschoben worden. Indien dagegen, das zuvor 5,8 Millionen Tonnen exportiert hatte (Nr. 2 in der Welt), entwickelte sich innerhalb eines Jahres zum Importeur von 1,8 Millionen Tonnen (Nr. 2 in der Welt).
Produzenten sind die Nutznießer
Die Zuckerproduzenten sind die Nutznießer der hohen Preise. Cosan, mit 21 Zucker- und Ethanolfabriken Brasiliens größter Zuckerproduzent, musste in dem zum Januar endenden Quartal noch einen Nettoverlust von 64,6 Millionen Dollar hinnehmen; im Frühjahrsquartal, als die Zuckerpreise um etwa 33 Prozent anzogen, generierte das Unternehmen statt dessen einen Nettogewinn von 184 Millionen Dollar. Cosans Finanzdirektor, Marcelo Martins, sagte, dass er für mindestens eine weitere Anbausaison von stabilen Preisen ausgehe.
Zu weiteren Unternehmen, die von der Preisspitze profitieren, gehören laut Einschätzung von Gary Drimmer, Chef der Landwirtschafts-Beratungsgesellschaft Drimmer & Associates International, Produzenten und Händler wie Tate & Lyle und ED&F Man, die Hersteller von fruktosereichem Maissirup Archer Daniels Midland, Cargill Foods und Corn Products International, und die Düngemittelhersteller Agrium, Terra Industries und CF Industries Holdings.
„Solange man genügend Altbestände halten kann, funktioniert der Markt für einen Rohstoff in der Regel gut“, sagt Berater Corzine. Die Lieferrückgänge in Brasilien und Indien „haben schließlich zu einem Abbau der Bestände geführt. In dem Maße, wie der Zuckerpreis steigt, werden sich die Leute nach alternativen Süßstoffen umsehen müssen“. Am Ende komme der Markt dann wieder ins Gleichgewicht.
„Wenn die indische Ernte gut wird, dürften sich die Preise abschwächen. Wenn aber“, warnt McDougal, „der Monsun sporadisch bleibt, oder wenn El Niño in Asien neue Schwierigkeiten verursacht, oder wenn in Brasilien weitere Probleme hinzukommen, so könnten die Preise anziehen. Die Märkte reagieren derzeit sehr sensibel.“
http://www.faz.net/s/...BF9C2578070D71EEC4~ATpl~Ecommon~Scontent.html |