Selbsterkenntnis ist, so heißt es, der erste Schritt zur Besserung. Ein ebenso kluger wie missachteter Satz. Nicht einfach Erkenntnis führt uns aus der Krise, nein, die Erkenntnis muss sich auf ein bestimmtes Objekt richten: uns selbst. Und: Sie muss allen anderen Erkenntnissen vorausgehen. Sehen wir uns darauf hin die gegenwärtige Reformdiskussion in Deutschland an, so ist Besserung des Gesundheitszustandes noch in weiter Ferne. Denn da werden alle möglichen Ursachen für die Malaise unserer Wirtschaft und unseres Gemeinwesens gehandelt, nur wir selbst kommen so gut wie nie dabei vor.
Da sind die Politiker und Parteien, die es an Führungskraft missen lassen oder ließen. Oder es sind die Verhältnisse: die Wiedervereinigung, der Euro, der Stabilitätspakt, die Globalisierung, der Föderalismus und so weiter – die Liste der Schuldigen ist lang, nur der Hauptschuldige fehlt: wir.
Haben wir die Politiker, die wir jetzt für alles verantwortlich machen, nicht selbst gewählt und wieder gewählt? Haben wir es nicht dem Kanzler Helmut Kohl in den Neunzigerjahren nur allzu gern durchgehen lassen, wenn er so tat, als ließe sich die Wiedervereinigung aus der Portokasse bezahlen, als könne alles so bleiben wie gehabt? Haben wir es demselben Kanzler nicht auch durchgehen lassen, dass er die Mark kurzerhand in den Euro ummünzte und so tat, als würde es sich dabei nur um eine Art Export unserer ach so wunderbaren Währung nach Europa handeln und als müsste sich deswegen in Deutschland nichts ändern, sondern nur bei unseren Nachbarn? Und waren wir nicht stolz, als unsere Selbstüberschätzung mit dem Stabilitätspakt noch einmal extra besiegelt wurde?
Waren wir es nicht auch, die Gerhard Schröder zum Kanzler wählten, just als bei Kohl und seinen Mannen spät zwar, aber womöglich doch noch nicht zu spät, die Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen dämmerte, sein Herausforderer aber selbst diese zarten Reformansätze ersticken wollte? Und wählten wir Schröder nicht gerade erst wieder, obwohl er noch bei den Wahlen im Herbst so tat, als seien tief greifende Reformen weiterhin nicht vonnöten – trotz immer weiter steigender Arbeitslosigkeit?
Wohlstand verschleudert
Nein, an dem bedauernswürdigen ökonomischen Zustand, in dem sich unser Land befindet, sind wir schuld und sonst niemand. Wir, das heißt vor allem die Generation derer, die nach dem Kriege geboren wurden, 1968 gegen ihre Eltern rebellierten, seitdem in einem langen Marsch durch die Institutionen den früheren Wertekanon dieses Landes auf den Kopf stellten, eine tonangebende Mehrheit im Volke (und damit sind keineswegs nur Anhänger von Rot-Grün gemeint) für sich gewannen und in den vergangenen Jahrzehnten progressiv den Wohlstand verschleuderten, der von ihren Eltern in den Jahrzehnten zuvor erarbeitet worden war.
Was daher jetzt auf der Tagesordnung steht, ist nichts weniger, als dass diese tonangebende Generation sich selbst ihren geschichtlichen Irrtum eingesteht, nahezu allem abschwört, woran sie ein (halbes) Leben lang geglaubt hat und radikale Reformen in Gang bringt, die das meiste von dem, was sie in den zurückliegenden 30 Jahren durchgesetzt haben, wieder rückgängig macht.
Die Frage ist: Geht das überhaupt? Wohl kaum! Wer will schon umsonst gelebt haben? Wer hat schon die Kraft, sein Lebenswerk selbst wieder zu zertrümmern, weil er erkennen musste, dass es schlecht geraten ist?
Deswegen ist es ja so mühsam in Deutschland mit den Reformen. Deswegen kommen sie ja – wenn überhaupt – nur in homöopathischen Dosen voran. Deswegen gibt es ja diese ständigen Rückschläge.
Keine Erkenntnis fällt so schwer wie Selbsterkenntnis. Sie kommt denn auch selten zuerst, sondern meist zuletzt – wenn gar keine andere Wahl mehr bleibt, die Schmerzen unerträglich werden und die schiere Existenz auf dem Spiel steht. Oder eine andere Generation übernimmt.
Oft ist es dann jedoch zu spät.
STEFAN BARON, Wirtschaftswoche
10.6.2003
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