"... perfekte Einkaufserlebnisse für kleinste Nischenmärkte..." Von Wade Roush
Microsoft betreibt seine Forschungsabteilung bereits seit den frühen Neunzigerjahren, Google lässt seine Entwickler 20 Prozent ihrer Zeit mit R&D-Projekten verbringen, und selbst das Portal Yahoo steckt seit Kurzem Zeit und viel Geld in eine deutlich vergrößerte Forschungsmannschaft. Nur der Online-Auktionsgigant eBay schien sich bislang noch zurückzuhalten.
Doch genau das stimmt inzwischen nicht mehr: Vor etwas weniger als einem Jahr gründete die Firma die eBay Research Labs, die aus der firmeneigenen Programmierertruppe "Advanced Technology Group" hervorgin. Trotz ihrer Jugendlichkeit hat die neue Forschungsabteilung große Ziele. Ihr Chef, Senior Director Eric Billingsley, glaubt gar, eBay eines Tages zu einer "Standardplattform" für alle Arten von Online-Geschäften machen zu können. Der ehemalige Atomingenieur und Veteran des Suchmaschinenpioniers AltaVista will eine Art "Betriebssystem" schaffen, über das dann Entwickler und Internet-Firmen auf das gigantische Inventar und die große Infrastruktur von eBay zugreifen können – mit speziell abgestimmten Werkzeugen.
Billingsleys Ziel: Das Online-Auktionshaus soll zu einer Art Manhattan der Internet-Wirtschaft werden, das unabhängige Entwickler und Chefs von E-Commerce-Start-ups nicht ignorieren können, wenn sie groß und berühmt werden wollen. EBay Research kultiviert hierzu nicht nur neue Ideen innerhalb der Firma, sondern will auch Drittanbieter motivieren, seinen Technikpool zu nutzen.
Gleichzeitig arbeiten die eBay-Forscher an einer Verbesserung der eigenen Infrastruktur – sie analysieren Soft- respektive Hardware und überlegen sich Verbesserungen, die die Nutzung der gigantischen Website angenehmer machen sollen. Technology Review unterhielt sich mit eBay-Research Labs-Chef Eric Billingsley im Hauptquartier des Unternehmens in San Jose.
Technology Review: Herr Billingsley, was war Ihr erstes großes Projekt innerhalb der eBay Research-Abteilung?
Eric Billingsley: Die erste Sache, in die ich noch innerhalb der "Advanced Technology Group" mächtig viel Energie investiert habe, war die interne eBay-Suchmaschine. Damals dauerte es insgesamt neun Stunden, um deren Index auf den neuesten Stand zu bringen. Suchanfragen liefen teilweise extrem langsam, und die Suche wurde nach und nach zu einem extrem teuren Teil unserer Infrastruktur. Heute dauert es nur noch wenige Sekunden, bis ein abgegebenes Gebot im Index auftaucht. Wir hatten also von vornherein einen direkten Einfluss auf die Seite. Und genau das führte dann auch dazu, dass wir schnell ein entsprechendes Renommee bekamen, das uns nun ermöglicht, andere Dinge innerhalb von eBay zu verändern.
TR: Wie viele Menschen arbeiten derzeit in den eBay Research Labs und wo kommen diese her?
Billingsley: Ich selbst bin ausgebildeter Atomingenieur. Wir haben hier noch zwei Physiker, einen Anthropologen und eine ganze Reihe Informatiker natürlich. Außerdem gehören Mathematiker, Statistiker und Computerlinguisten zu meiner Truppe. Wir sind derzeit aber noch ein eher kleines Team.
TR: Das hört sich nicht nach einer klassischen Forschungsabteilung an, in der zahlreiche Doktoren in einem Gebäude herumsitzen und sich spannende Dinge ausdenken.
Billingsley: Genau das macht doch aber den Job für meine Leute so spannend. Ich will keine Forscher einstellen, die sich dann in einen Elfenbeinturm zurückziehen. Wir wollen Menschen, die die Infrastruktur erfinden, die wir dann alle in fünf Jahren benutzen können.
Das haben wir immer im Hinterkopf. So überlegen wir beispielsweise, wie man Ideen aus dem Social-Networking-Bereich für eBay anwenden könnte. Wir nehmen das Feedback unserer Nutzer und verwenden es dazu, den Leuten zu helfen, das zu finden, was sie für am interessantesten erachten. Haben Sie sich beispielsweise schon einmal "eBay Express" angesehen? Das gehört zu den ersten Dingen, die sich unter anderem aus unserer Arbeit ergaben. Mehr davon werden wir im nächsten Jahr herausbringen.
Ein Beispiel: Normalerweise findet man auf eBay einen großen Mix an Produkten. Geben Sie etwa den Suchbegriff "iPod nano" ein, erscheinen Kopfhörer, Ladegeräte, Hüllen und Armbänder – aber fast nie ein iPod direkt. Bei eBay Express haben wir das jetzt so aufgebaut, dass das System weiß, ob man iPod-Zubehör oder die Hardware sehen möchte – anhand früherer Suchvorgänge anderer Nutzer. So lassen sich Suchergebnisse sehr schnell auf das eingrenzen, was man wirklich finden will.
TR: Das heißt also, dass sie versuchen, den Nutzern eine Lösung für die teils frustrierenden Suchergebnisse an die Hand zu geben. Welche anderen Probleme wollen Sie angehen, die die eBay-Nutzer derzeit quälen?
Billingsley: Wir arbeiten aktuell daran, die tatsächliche Absicht des Nutzers besser zu verstehen. Wenn man nach einem Stück Elektronik sucht, denkt man doch über ganz andere Dinge nach als jemand, der zum Beispiel ein Sammlerstück aus Glas haben möchte. Man fragt sich, ob das Gerät ins Wohnzimmer passt, der Stecker auch in den USA funktioniert oder wie teuer die Versandkosten sind. Deshalb arbeiten wir an einer Liste, mit der man dann die Produkte entsprechend vergleichen kann.
Sammler denken hingegen an ganz andere Dinge. Sie fragen sich, ob sie ein Stück schon besitzen und wie sie etwas Ähnliches oder etwas ganz Anderes finden. Was für Sammler A wertvoll ist, ist für Sammler B uninteressant. Auch hier wollen wir künftig eine auf den jeweiligen Nutzer zugeschnittene Website-Ansicht schaffen.
TR: Um das besser zu verstehen – ich besitze ein altes Stereoskop aus Holz, das aus dem Jahre 1905 stammt. Dafür kann man sich Karten kaufen, die zwei Fotografien mit einem Motiv aus leicht verschiedenen Perspektiven enthalten. Für mich klingt Ihr Ansatz so, als wollten Sie mir dann mit wenigen Mausklicks einen eigenen eBay-Laden für Stereoskop-Bedarf schaffen, wo ich mehr dieser Karten bekomme.
Billingsley: Ganz genau. Aber mein Endziel ist noch größer – wir wollen eine Plattform schaffen, mit der Entwickler von außen für uns einen solchen Laden aufbauen können, von dem sie dann selbst profitieren können. Ich will aus eBay eine Art Plug-in-Architektur machen, die es Entwicklern erlaubt, perfekte Einkaufserlebnisse für kleinste Nischenmärkte zu schaffen. Die Idee des "Long Tail" mit zahllosen Angeboten ist eine große Sache für uns. Und wir fangen erst damit an, sie zu nutzen.
TR: Können Sie Näheres zu dieser Plug-in-Architektur sagen? Wie können Entwickler von außen davon profitieren?
Billingsley: Wir befinden uns hier noch in einer frühen Phase, und ich spreche auch nur deshalb so offen darüber, weil ich hoffe, dass der Rest der Internet-Community uns dabei hilft. Ich will es den Leuten möglich machen, Geschäfte zu errichten, die auf anderen Geschäften aufbauen, die wiederum auf anderen Geschäften aufbauen. Ich möchte, dass unsere gesamte Infrastruktur der gesamten Entwicklergemeinde zur Verfügung steht, damit sie nicht mehr ihre eigene einkaufen und betreuen muss. Idealerweise sollte es dann so aussehen, dass ein einzelner Entwickler irgendwo auf der Welt davon leben kann, eBay-Anwendungen für Firmen-Websites zu entwickeln, ohne Angestellter dieser Firmen zu sein.
TR: Andere Internet-Unternehmen, die nicht besonders weit weg von eBay sitzen, planen Ähnliches. Amazon bietet mit "S3" eine Plattform, die Entwickler nutzen können, um ihre Datenbanken auszulagern – der E-Commerce-Gigant nutzt dazu einfach seine überschüssige Kapazität. Gleichzeitig versucht Google, Website-Betreiber dazu zu bewegen, ihre gesamten Datenbestände bei "Google Base" hochzuladen.
Billingsley: All dies sind noch sehr eingeschränkte Angebote. Es geht dabei meisten nur darum, diesen Firmen seine Gesamtdatenbestände in die Hand zu drücken. Aus meiner Forschungserfahrung kann ich Ihnen sagen, dass derart viele Informationen Macht sind. Dementsprechend macht es natürlich Sinn für Google und Amazon, solche Dienste anzubieten. Was wir jedoch wollen, ist etwas Anderes: Wir wollen den Datenverkehr zu den Entwicklern lenken. Ich erwarte nicht, dass irgendjemand irgendetwas kostenlos macht. Wenn man etwas bei eBay einstellt, tut man dies, um Geld an der Transaktion zu verdienen. Es gibt Leute, die davon leben. Wir wollen dies nun auch auf andere Bereiche ausdehnen, also nicht nur auf Menschen, die Produkte anbieten, sondern auch auf solche, die Ideen, Fähigkeiten und Bildung besitzen.
TR: Müssen diese neuen Anwendungen immer etwas mit dem Warenverkauf zu tun haben?
Billingsley: Ich glaube, dass jeder einen Lebenszweck besitzt, und bei eBay ist das eben die Schaffung neuer Gemeinschaften, die Handel treiben. Handel steckt hinter nahezu jedem Aspekt des modernen Lebens. Ich glaube also nicht, dass uns das irgendwie einschränkt.
TR: Sie sagen, dass eBay Research dadurch entstanden ist, dass Ihre Truppe zeigen konnte, wie man den Suchmechanismus des Angebotes verbessert. War es nicht gleichzeitig sowieso an der Zeit, eine echte Forschungsabteilung zu gründen? eBay macht genug Umsatz und ist groß genug dafür.
Billingsley: Sie haben wahrscheinlich schon von eBays "Zugsitzplatz"-Modell gehört. Das bedeutet, dass wir die gesamte eBay-Site alle zwei Wochen komplett neu herausbringen. Kürzlich haben wir beispielsweise "Zug 472" veröffentlicht. Jeder, der in diesem "Zug" einen "Sitzplatz" hatte, konnte dann sehen, wie sein Projekt online ging. Das führt zu einer Vorhersehbarkeit bei der Fortentwicklung des Angebotes – wir wissen ein Jahr im Voraus, dass dann und dann dieser oder dieser "Zug" ansteht. Das bedeutet aber auch, dass unsere Ingenieure nahezu ein Jahr im Voraus ausgebucht sind und es hier nicht viel Spielraum gibt. Deshalb hatten wir immer im Hinterkopf, dass wir zusätzliche Ressourcen bräuchten, Leute, die nicht nur über neue Geschäftsideen nachdenken, sondern auch solche, die neue Technologien und neue Ideen entwickeln, die wir dann bei eBay einbauen können.
TR: Dementsprechend haben Ihre Forschungsleute also keinen zugewiesenen Platz im "Zug"?
Billingsley: Nein.
TR: Sollen all die neuen Funktionen, die sie planen, auch dazu führen, dass die Leute noch mehr Zeit bei eBay verbringen?
Billingsley: Ich hoffe, dass die Nutzer dadurch ein besseres Leben haben, wenn sie länger auf der Site sind.
TR: Oder es führt einfach dazu, dass sie einfach mehr Dinge einkaufen.
Billingsley: Einigen Menschen geht es ja so, dass sie sich erst für vollständig halten, wenn auch ihre Sammlung komplett ist. Ich will, dass sie sich für vollständig halten.
Quelle: http://www.heise.de/tr/artikel/76963
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