IT-Branche
Nokia auf dem Weg zum Multimediakonzern
Mit neu entwickelten Multimedia-Computern und integrierten Services will sich der weltgrößte Handyhersteller Nokia seine Zukunft im rasant wachsenden Markt digitaler Konvergenzprodukte sichern. Mit seiner N-Serie will das Unternehmen die Branche verändern, wie eins Laptops die Computerindustrie.
NEW YORK / DÜSSELDORF. In New York präsentierte der Konzern am gestrigen Dienstag einen neuen Mini-Computer, der ab Anfang 2007 als Telefon, Kamera, Webbrowser, Musikplayer und Navigationsgerät dienen soll – alles in einem kleinen Gerät namens N 95. „Das wird die Branche verändern wie einst die Laptops die Computerindustrie“, brüstet sich Anssi Vanjoki, Multimedia-Vorstand von Nokia.
Die Neuausrichtung der Finnen vom reinen Handyproduzenten zum integrierten Unterhaltungs- und Serviceanbieter gewinnt damit an Fahrt. Nokia will die Stagnation der vergangenen Jahre hinter sich lassen und in immer neue Marktsegmente der Unterhaltungselektronik vordringen.
Für die Vision eines Alleskönners, der gleich mehrere Branchen aufmischt, hat Finnlands Aushängeschild zuletzt mächtig investiert und fleißig Software-Kompetenz von außen zugekauft.
Vor wenigen Wochen erst kaufte Nokia den Web-Musikdienstleister Loudeye. Der Start eines eigenen Musik-Verkaufs scheint damit beschlossen. In New York hat Nokia als ersten Schritt einen Musik-Empfehlungsdienst gestartet – in Zusammenarbeit mit 40 Musikshops weltweit. Nokia bewegt sich damit in Richtung des Apple-Erfolgsmodells iPod/iTunes.
Nokia baut schon jetzt weltweit nach eigenen Angaben die meisten digitalen Musikspieler und will im laufenden Jahr rund 80 Mill. Telefone mit Musikfunktion verkaufen. Allein von der hochpreisigen N-Serie haben die Finnen in diesem Jahr schon zehn Mill. Stück verkauft, sagt Vanjoki, was für einen Marktanteil bei mobilen Multimediacomputern mit Telefonfunktion von 55 Prozent reiche.
Die Expansion in Dienste wie Navigation und Musikdownload ist nicht ganz freiwillig. Der Telefonproduzent sieht sich einem drohenden Ansturm neuer Konkurrenten wie Apple, Sony und Microsoft auf den angestammten Märkten ausgesetzt. Apples erster Angriff auf den Handymarkt mit Hilfe von Motorola („Rokr“) ist zwar kläglich gescheitert. Doch zusammen mit der japanischen Softbank, Käufer der japanischen Tochter von Vodafone, arbeitet Apple jetzt an einem Nachfolger, der iTunes-Musik direkt über das Mobilfunknetz laden kann.
Der nächste hochkarätige Angreifer liegt schon auf der Lauer. „Ein Telefon ist definitiv Teil unserer Strategie“, sagte Microsoft-Manager Chris Stephenson bei der Vorstellung des digitalen Musikplayers „Zune“. Der Zune-Player wird einen eigenen, exklusiven Musikshop im Web erhalten, auf den dann auch das Telefon Zugriff haben wird – aber kein Gerät der Konkurrenz. Schon gar kein Gerät, dass statt Windows ein Symbian-Betriebssystem hat – so wie Nokia.
Um den eigenen Telefonen auch mit dem Betriebssystem Symbian den Zugang zu attraktiven Diensten zu gewährleisten, musste Nokia aktiv werden: Der Akquisition der Musikplattform Loudeye folgte die Übernahme des Navigationsspezialisten Gate 5.
Vor wenigen Tagen hat Nokia zudem eine Software angekündigt, die – zunächst in den USA und Skandinavien – in Zusammenarbeit mit Hewlett Packard die Bestellung von Fotoausdrucken über das Telefon ermöglicht. Bislang ist der Umweg über das Internet oder der Anschluss an einen Drucker nötig.
Speziell für den US-Markt hat Nokia das Klapphandy N75 vorgestellt. Es soll helfen, verlorenen Boden gegen die Nummer zwei, Motorola, wett zu machen. Motorola konnte laut Gartner vergangenes Quartal mit seinen Klapphandys „Razr“ seinen Marktanteil weltweit von 20,3 auf 21,9 Prozent steigern, während Nokia leicht von 34 auf 33,6 Prozent absackte. Nokia-Aktien stiegen nach der Präsentation der neuen Modelle um über zwei Prozent.
Telefon war gestern: Der Trend geht zum Allroundtalent in der Jackentasche. Das neue Nokia N 95 markiert dabei einen neuen Höhepunkt. Musik, Video, Navigation und Telefon aus einer Hand. Es legt den Schwerpunkt auf Fotografie und Navigation. Die Kamera mit Carl Zeiss-Optik stößt mit einer Auflösung von fünf Megapixeln in Bereiche vor, die bis jetzt noch fest in der Hand der Kamerahersteller waren. Die Navigationseinheit (GPS) ist fest integriert.
Nie mehr ohne: Nach einer repräsentativen Umfrage von Nokia nutzen 71 Prozent der Befragten das Handy schon als primären Wecker, 85 Prozent als primäre Uhr, 57 Prozent als primären Terminkalender. Immerhin 44 Prozent ersetzen bereits ihre Digitalkamera durch ihr Kameraphone.
Musik von Nokia: Mit dem Dienst „Music Recommender“ unter Führung von Musiklegende David Bowie steigt Nokia in den Musikvertrieb ein. Noch als reiner Empfehlungsdienst ausgelegt, soll im Laufe der Zeit die Möglichkeit dazukommen, Musik auch zu kaufen.
Genug für USA? Im US-Markt hatte Nokia laut Strategy Analystics im 2. Quartal nur einen Marktanteil von 13 Prozent, deutlich hinter Motorola mit 44 Prozent. Nokia fehlen attraktive Klapphandys für Jugendliche, sagen Analysten.
Quelle: HANDELSBLATT, Mittwoch, 27. September 2006, 09:52 Uhr
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