Radioaktive Strahlung in britischen Flugzeugen
Die Giftspuren im Fall Litwinenko deuten nach Moskau / 33 000 Passagiere betroffen
Hr. LONDON, 30. November. Die jüngsten Entdeckungen im Fall des früheren russischen Spions Litwinenko weisen deutlicher als je nach Moskau. Seit Mittwoch abend sind drei Flugzeuge der "British Airways", die in der fraglichen Zeit zwischen London und Moskau eingesetzt waren, wegen des Fundes einer geringen radioaktiven Strahlung vorläufig stillgelegt. Zwei Flugzeuge stehen in London, ein Flugzeug wird in Moskau am Boden gehalten. Litwinenko war am 23. November an den Folgen einer radioaktiven Vergiftung gestorben, die er sich vermutlich am 1. November zugezogen hatte. Die Hinweise auf radioaktive Spuren in den Flugzeugen lassen plausibel erscheinen, daß der Stoff kurz vorher von Moskau nach London gebracht worden war und die Überbringer dann wieder zurückgeflogen sind. Sprecher der Gesundheitsbehörde nannten das Risiko für Passagiere, die seither dieselben Flugzeuge benutzt haben, gering.
Mit dieser Wendung hat die unheimlichste Begleiterscheinung des Todesfalles Litwinenko, die Verzögerung, ein neues Stadium erreicht. Das tödliche Gift - radioaktives Polonium-210 - war so gemischt, daß die Wirkung erst lange nach der Einnahme zutage trat. Das hatte den Tätern die Möglichkeit gegeben, das Opfer ahnungslos zurückzulassen und die Szene in Ruhe zu räumen. Es hat aber auch die Frist gedehnt, bis die Polizei die richtige Fährte aufnehmen konnte. Deshalb sind die drei Flugzeuge seit dem fraglichen Flug zwischen Moskau und London noch mehr als zweihundertmal zu anderen europäischen Zielen unterwegs gewesen, bevor sie aus dem Verkehr gezogen wurden. Unter anderem gab es zwei Flüge nach Frankfurt und einen nach Düsseldorf.
Am Frankfurter Flughafen sieht man derzeit keine Veranlassung, nach Spuren der radioaktiven Substanz zu suchen. "Bei uns ist kein Geigerzähler im Einsatz", sagte ein Sprecher am Donnerstag. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei den Zwischenstopps der belasteten Flugzeuge am 26. und 27. Oktober oder am 2. und 3. November Mitarbeiter oder Gerät des Flughafens kontaminiert worden seien, gehe gegen Null. British Airways sucht zunächst rund 800 Passagiere, die um den 25. Oktober oder kurz danach die Verbindung zwischen Moskau und London benutzt hatten. Insgesamt will sie aber Kontakt zu rund 33 000 Fluggästen aufnehmen, die seitdem mit den betroffenen Flugzeugen geflogen sind. Dasselbe gilt für das fliegende Personal.
Das Element der Verzögerung spielt mittlerweile auch eine Rolle in einer der vielen Verschwörungstheorien, die um den Fall Litwinenko ins Kraut schießen. Unstrittig scheint, daß der Giftstoff nur aus einer staatlichen oder halbstaatlichen Quelle gekommen sein kann.
(Fortsetzung Seite 2)
Doch die Ausführung läßt Fragen offen. Bei einem anderen Grad der Mischung hätten die Täter die Chance gehabt, nicht nur selbst zu entkommen, sondern auch die Tat zu verschleiern. Deshalb heißt es in dieser Sorte von Spekulationen, die Quelle des Poloniums sei zwar eine staatsähnliche technische Einrichtung, doch der Stoff sei nicht von Fachleuten dieser Sparte verabreicht worden, sprich von professionellen Agenten, sondern von Amateuren, und die seien von demselben schwarzen Markt gekommen wie das Polonium. Nach Art der Verschwörungstheorien hat auch diese freilich ihren eigenen Umkehrschluß in sich: Der Anschlag sei von Professionellen derart gehandhabt worden, damit es so aussehe, als wären Amateure am Werk gewesen. Und natürlich ist jetzt der nächste Umkehrschluß möglich, und der übernächste.
Das Arrangement erinnert an eine russische Puppe. Entsprechend vielfältig sind die potentiellen Täter oder Urheber. Nach der landläufigen Londoner Version wäre die Tat dem russischen Präsidenten Putin anzulasten oder seinen Freunden oder solchen, die sich dafür halten, kurz: seinem Geheimdienst. Die Gegenversion ist, es könnten Putins Feinde - möglicherweise aus demselben Geheimdienst - gewesen sein, die den Kremlherrscher in Mißkredit bringen wollten. Diese Version wird vor allem aus Moskau gespeist. Das gilt auch für die dritte Auslegung: Es sei irgendeine Intrige unter russischen Emigranten gewesen. Kremlnahe russische Politiker nennen den in London lebenden Milliardär Boris Beresowskij. In Moskau wurde der Fund von Polonium-Spuren in Beresowskijs Büros als Hinweis auf eine Täterschaft der einstigen grauen Eminenz im Kreml gelesen. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde dort in diesem Zusammenhang registriert, daß auch in zwei Flugzeugen der russischen Fluggesellschaft Transaero radioaktive Spuren vermutet wurden, denn an Transaero war einst Beresowskij beteiligt, und in Rußland halten sich Gerüchte, er sei es über Strohmänner noch immer. Über Beresowskij wird berichtet, er fürchte, das nächste Opfer zu werden.
Ein mögliches Motiv ist Litwinenkos harte Kritik an seinem früheren Arbeitgeber, dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der von 1998 bis 1999 von Wladimir Putin geführt wurde. In Moskau hatte der vormalige Oberstleutnant Litwinenko 1998 öffentlich behauptet, der FSB wolle Beresowskij ermorden. Später hatte er in einem Buch die These unterstützt, der Dienst habe 1999 in Moskau Bombenanschläge auf Wohnhäuser mit mehreren hundert Toten verübt, um sie tschetschenischen Terroristen in die Schuhe zu schieben und indirekt Putins Weg zur Macht zu ebnen, der mit dem anschließend begonnenen zweiten Tschetschenien-Krieg populär wurde.
Ein unmittelbarer Anlaß könnten die Recherchen nach der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober sein, die Litwinenko von London aus betrieben hatte. Um diesen Fall war es auch bei der Begegnung mit dem italienischen Wissenschaftler Scaramella gegangen, die am 1. November in einem Londoner Sushi-Restaurant stattgefunden hatte. Scaramella hält sich jetzt "an einem sicheren Ort" bei London auf, um den Spezialisten von Scotland Yard zu helfen. Er wird nicht beschuldigt, und nach medizinischem Befund soll er auch nicht mit radioaktiven Spuren behaftet sein.
Zwei Russen, die Litwinenko am selben Tag in einem Hotel getroffen hatte, beteuern in Moskau ebenfalls ihre Unschuld und haben sich bereit erklärt, der britischen Polizei alle gewünschten Auskünfte zu geben. Auch die Auseinandersetzung zwischen Putin und dem zerschlagenen russischen Ölkonzern Yukos scheint im Hintergrund des Todesfalls auf. Einige Wochen vor seiner Erkrankung war Litwinenko in Israel, um dem dort lebenden einstigen Yukos-Manager Leonid Newslin ein Dossier über die gewaltsame Übernahme der Ölfirma durch den Kreml zu bringen. Newslin soll die Unterlagen jetzt der britischen Polizei übergeben haben.
In Moskau sagte unterdessen der Sprecher des früheren russischen Ministerpräsidenten und heutigen Oppositionellen Jegor Gajdar, dieser sei offensichtlich vergiftet worden. Die Ärzte schlössen eine Lebensmittelvergiftung als Ursache für dessen rätselhafte Erkrankung am Freitag vergangener Woche aus. Noch am Mittwoch hatte Gajdars Sprecher in Reaktion auf die Spekulationen über eine Vergiftung Gajdars vor voreiligen Schlüssen gewarnt.
Text: F.A.Z., 01.12.2006, Nr. 280 / Seite 2
. MfG kiiwii
P.S.: "Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben" (B.R.) |