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Nahost-Konflikt
Offensive Abwehr
Der Westen kann einen umfassenden Konflikt im Nahen Osten vermeiden. Allerdings nur, wenn er Israel eine echte Garantie für seine Sicherheit anbietet und gleichzeitig die unheilvolle Achse Iran-Syrien-Hisbollah sprengt.
Von Nicolas Richter
Die irakische Nuklearanlage Osirak wurde 1981 von Israel zerstört. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte die Aktion.
Foto: dpa
Israel ist oft mit dem Völkerrecht in Konflikt geraten.
Das kleine Land hat dies immer mit den besonderen Verhältnissen im Nahen Osten gerechtfertigt: Inmitten skrupelloser Feinde, die Israels Vernichtung anstreben, müssten gegnerische Angriffe präventiv abgewehrt oder mit härtester Vergeltung beantwortet werden.
Es gab die umstrittene Liquidierung palästinensischer Terrorverdächtiger, den Schutzwall, der Selbstmordattentäter fernhalten sollte.
Der Internationale Gerichtshof erklärte ihn für rechtswidrig, weil die Mauer weit in palästinensisches Gebiet schneidet. Im Jahr 1981 zerstörten israelische Kampfflugzeuge den irakischen Atomreaktor Osirak, was den Versuch des Irak schon im Ansatz vereiteln sollte, eine Atombombe zu entwickeln. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte diese Aktion einstimmig – auch mit dem Votum des engsten Freundes USA.
Seit zehn Tagen bombardiert die israelische Luftwaffe jetzt den Libanon, und ebenso lang streitet die Welt über diese überraschend offensive Militäroperation.
Menschen in Beirut fliehen vor einem israelischen Luftangriff.
Foto: dpa
Zu viele Tote, zu viele Flüchtlinge
Die erste Analyse, Israel dürfe sich zwar verteidigen, schlage aber mit unverhältnismäßiger Härte zurück, trifft bis heute zu. Diese Bewertung kommt zwar – wie zu erwarten – auch von den üblichen Israelkritikern: Wenn Russland moniert, dass die Offensive die Grenzen einer Anti-Terror-Operation weit überschreite, dann spricht jene Regierung, die unlängst noch Tschetschenien in Schutt und Asche legte – unter dem Vorwand der Terrorabwehr.
Diese Scheinheiligkeit ändert nichts an der Richtigkeit dieses vorläufigen Urteils über Israel: Die vielen Toten und Flüchtlinge, das Ausmaß der Zerstörung ziviler Infrastruktur wecken erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Reaktion.
Ohne Frage ist dies der zweite Krieg seit dem Herbst 2001, den gewalttätige Islamisten auslösen. Damals beantwortete die US-Armee den Terror vom 11. September mit einem Großeinsatz in Afghanistan.
Nicht nur der Sicherheitsrat, sondern auch der überwiegende Teil der Weltgemeinschaft war sich im Kollektivschock einig, dass der private Al-Qaida-Terror wie ein staatlicher Angriff zu beantworten war.
Die Selbstverteidigung richtete sich daher nicht nur gegen al-Qaida selbst, sondern auch gegen deren Beschützer, die in Afghanistan herrschenden Taliban. Dass dies kein Rachefeldzug war, sondern Gefahrenabwehr, ließ sich damit begründen, dass die Dschihadisten sonst neue Bluttaten organisiert hätten.
Scheich Hassan Nasrallah, seit 14 Jahren Führer der Hisbollah.
Foto: dpa
Im Zweifel für die Zivilisten
Den internationalen Konsens verließen die USA aber schon bald, die neue Sicherheitsstrategie, die zur Gefahrenab-wehr selbst Präventivschläge (wie 2003 gegen den Irak) zulässt, ging den aller-meisten viel zu weit.
Interessanterweise waren die USA auf genau jene Linie Israels eingeschwenkt, die sie 1981 nach dem Schlag gegen den irakischen Atommeiler noch abgelehnt hatten.
Wer gerade angegriffen wurde oder dies ständig befürchten muss, der entwickelt eben eine andere Verteidigungsdefinition als jene, die aus sicherer Distanz darüber urteilen.
Im Libanon verteidigt sich Israel nun gegen die Hisbollah. Wichtiger als der ursprüngliche Angriff der Islamisten auf israelische Grenzsoldaten ist die Tatsache, dass die Hisbollah das Nachbarland andauernd mit Raketen beschießt.
Sie feuert in Wohngebiete, was ein Kriegsverbrechen ist; der israelische Staat muss seine Bürger davor schützen. Mit ihrem todbringenden Katjuscha-Beschuss liefern die Extremisten Israels Regierung freilich jeden Tag neue Argumente dafür, die Selbstverteidigung fortzusetzen.
Im Zweifel keine Bomben
Im Libanon steht das israelische Militär vor den bekannten Herausforderungen der asymmetrischen Kriegsführung: Armee gegen Miliz. Die Hisbollah verschanzt sich und lagert ihre Waffen inmitten von Wohnvierteln, was Israel nicht das Recht abspricht, diese Häuser trotzdem anzugreifen.
Das Kriegsrecht schützt zivile Gebäude nicht mehr, wenn sie zu „militärischen Handlungen“ beitragen – insofern ist der moralisch unsägliche Begriff vom menschlichen Kollateralschaden völkerrechtlich legitimiert.
Im Zweifel aber, ob im Keller eine Rakete liegt oder nicht, muss das Militär von einem Angriff absehen. Trotz aller Kenntnis über die Infrastruktur und trotz israelischer Vorwarnungen sind Hunderte libanesischer Zivilisten gestorben, ganze Straßenzüge liegen in Trümmern, ebenso Elektrizitätswerke und der Flughafen von Beirut.
Selbstverteidigung umfasst durchaus das Recht, ein gefährliches „Krebsgeschwür herauszuschneiden“, wie Israel es nennt. Wenn dabei aber mehr gesundes Gewebe entfernt wird als krankes, dann gilt die Operation als „exzessiver Einsatz von Gewalt“, wie UN-Generalsekretär Kofi Annan sagt.
Schlachtfeld der Weltpolitik
Die israelische Regierung macht überdies keinen Hehl daraus, dass ihre seit Jahren geplante Operation auch ganz anderen Gegnern gilt als der Hisbollah. Sie will deren Paten Syrien und Iran gleich mitschwächen.
Die libanesischen Wohnviertel sind aber nicht als Schlachtfeld für die Generalabrechnung mit dem nahöstlichen Extremismus geeignet. Die Libanesen haben dies schon einmal ertragen müssen, 15 Jahre lang, und damals hat Israels Intervention die Hisbollah erst herangezüchtet.
Angesichts Hunderter Toter in den vergangenen Tagen kippt die Stimmung in der Welt, aber auch in Israel selbst. Über Wochen kann das israelische Militär dies kaum fortsetzen.
Israels kühle Realpolitik ist verständlich: Selten hat sich das Land darauf verlassen können, dass es vom Völkerrecht und den UN tatsächlich geschützt wird. Jene Resolution 1559 etwa, die eine Entwaffnung der Hisbollah fordert, ist vom Sicherheitsrat nie durchgesetzt worden.
Wirkungslose UN-Truppen
Die UN-Truppe im Süden des Libanon zählt lediglich die Raketen, die über sie hinwegpfeifen. Derweil destabilisieren Iran und Syrien unbehelligt die Region, indem sie die Hisbollah mit Hunderten oder Tausenden Raketen ausstatten.
Wer von Israel fordert, die Grenzen der Selbstverteidigung zu wahren, der muss dem Land auch über Waffenstillstand und Vermittlung hinaus eine Friedensstrategie anbieten.
Weil sich die Hisbollah nicht freiwillig von ihren Raketen trennen wird, muss der Sicherheitsrat die Miliz zunächst von ihren Geld- und Waffenlieferanten abschneiden.
Die Landverbindungen zu Syrien sind überschaubar, sie müssen, wie der gesamte Süden des Libanon, von einer robusten UN-Schutztruppe kontrolliert werden, an der sich auch Russland und arabische Staaten beteiligen.
Gleichzeitig sollte der Westen versuchen, Syrien mit großzügigen Angeboten auf seine Seite zu ziehen, um die Achse Teheran-Damaskus-Hisbollah zu brechen. Der Libanon 2006 ist nicht wie Afghanistan 2001, aber es gibt genügend Parallelen, die ein breites Engagement der Welt gegen die Islamisten am Mittelmeer rechtfertigen.
Israels Regierung will die Militäroperation fortsetzen, „bis der Preis zu hoch ist“. Schickt das Land jetzt Bodentruppen, wird die libanesische Armee in den Konflikt eintreten. Dann herrscht Krieg mit unvorstellbarem Eskalationspotenzial. Spätestens dann übersteigt der Preis der Selbstverteidigung deren Nutzen.
(SZ vom 22.7.2006) http://www.sueddeutsche.de/,tt1m2/ausland/artikel/195/81114/