SPIEGEL ONLINE - 18. Juni 2007, 15:42 URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,488868,00.html SPEKTAKULÄRE VIDEOSSimulation zeigt das Ende des World Trade CentersVon Markus Becker Neue Computersimulationen stellen den Terroranschlag auf das World Trade Center so detailliert nach wie nie zuvor - bis hin zu einzelnen Flugzeugtrümmern und Glassplittern. Die Ergebnisse sind auch ein Schlag gegen die Verschwörungstheorien über den Einsturz der Zwillingstürme. Der Film beginnt mit einem gewohnten Anblick der Erde in "Google Earth". Nach einem rasanten Sturzflug auf New York wird schnell klar, dass hier nicht die Gegenwart zu sehen ist - sondern exakt jene Sekunde am 11. September 2001, in der sich das erste von Terroristen gekaperte Flugzeug in den Nordturm des World Trade Centers bohrt.
Kurz darauf ist in kleinsten Details zu sehen, was die Boeing 767 anrichtet: In wenigen Zehntelsekunden, die in der Computersimulation zu Minuten werden, schält sich die Aluminiumhaut vom Flugzeug. Große Teile des Rumpfs lösen sich ab, die Titanwellen aus dem Inneren der Triebwerke fliegen als glühend heiße Geschosse quer durch den Turm. Fast 38.000 Liter Kerosin verwandeln den oberen Teil des Hochhauses in eine Flammenhölle. In der Außenansicht ist zu sehen, wie die Boeing die schweren Stahlsäulen im Kern des Gebäudes wie Streichhölzer zerbricht. Auf der am schwersten getroffenen 95. Etage sind 17 der 47 Pfeiler zerstört oder schwer beschädigt, von anderen ist die Brandschutzverkleidung abgerissen. Damit ist das Schicksal des Wolkenkratzers besiegelt. Die Filme sind das Ergebnis jahrelanger Forschung und Software-Entwicklung. Ein Team der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana hat wissenschaftliche Computersimulationen eingesetzt, um die physikalischen Details der Anschläge auf das World Trade Center präzise zu simulieren. Die Forscher haben Hochhaus und Flugzeug in mehrere Hunderttausend winzige virtuelle Quadrate umgerechnet und jedes mit bestimmten physikalischen Eigenschaften versehen. Anschließend wurden Experimente und Bildvergleiche durchgeführt, um die Simulation mit der Realität abzugleichen. Nach mehreren Wochen Rechenzeit an Supercomputern, verteilt über mehrere Jahre, liegt jetzt nach Angaben der Experten die bisher realistischste Simulation des tragischen Ereignisses vor. "Die Computermodelle des Einschlags, die man oft im Fernsehen sieht, sind nicht wissenschaftlich genau", sagt Voicu Popescu, einer der beteiligten Informatiker. Die neue Simulation gebe "ein realistischeres Bild des Ereignisses". Und das könne den Architekten künftiger Hochhäuser helfen, ihre Gebäude sicherer zu machen - und auf diese Art möglicherweise viele Leben zu retten. Neue Erkenntnisse durch hochpräzise Simulation Das eigentliche Ziel solcher Hightech-Visualisierungen sind nicht spektakuläre Videos, sondern neue Erkenntnisse zu gewinnen. Und in dieser Hinsicht war die Simulation erfolgreich, wie die Forscher meinen - etwa was die Zahl der zerschmetterten Stahlsäulen im Kern des WTC-Nordturms betrifft. "Bisher gibt es nur Schätzungen, die stark variierten", sagt Purdue-Informatikprofessor Christoph Hoffmann zu SPIEGEL ONLINE. In manchen Untersuchungen war von bis zu 23 versagenden Pfeilern die Rede, während das National Institute of Standards and Technology in seinem Abschlussbericht von 2005 auf nur sechs zerstörte und drei beschädigte Säulen kam. "Ehrlich gesagt können wir diese niedrige Zahl nicht verstehen", so Hoffmann. Vieles in bisherigen Untersuchungen über die Anschläge auf das World Trade Center basiere auf groben Schätzungen. "Ich glaube nicht, dass die anderen Studien so sehr ins Detail gehen wie unsere Studie", meint Hoffmann. "Wir haben den Einschlag unter Verwendung präziser Flugzeugmodelle und mit kompletten strukturellen Daten des Gebäudes simuliert." Zwar seien die Vorgänge bei einer solchen Kollision prinzipiell nicht hundertprozentig reproduzierbar. "Aber man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass das, was man in der Simulation im Innern des Gebäudes sieht, etwas mit der Realität zu tun hat", so Hoffmann. Allerdings räumt er ein, dass Boeing keine genauen Daten des Modells 767-200 zur Verfügung gestellt habe. Deshalb sei man gezwungen gewesen, ein eigenes Modell des Fliegers zu entwickeln. Die Realitätsnähe haben die Forscher anhand der Fernsehbilder und Fotos der 9/11-Katastrophe als auch mit eigenen Experimenten geprüft. Die Schäden etwa an der Fassade seien in der Simulation und in der Wirklichkeit identisch gewesen. Zusätzlich haben die Experten im Labor Getränkedosen auf Stahl- und Betonobjekte gefeuert, um den Einschlag des Flugzeugs zu simulieren. Denn die Flüssigkeit an Bord der Boeing 767-200 - rund 38.000 Liter Kerosin - haben mit Abstand den größten Schaden angerichtet, und das nicht nur wegen der enormen Verbrennungshitze. "Man kann sich ein Flugzeug wie eine Wurstpelle vorstellen", sagte Hoffmanns Mitarbeiter Mete Sozen. Verglichen mit der Masse der Flüssigkeit an Bord sei das Gewicht des restlichen Flugzeugs - des Rumpfes, des Fahrwerks und selbst der Triebwerke - "winzig". Gewaltige Aufprallenergie Allein die kinetische Energie des Aufpralls habe so ausgereicht, den WTC-Nordturm entscheidend zu schwächen. 17 der 47 Stahlsäulen auf Etage 95 wurden der Simulation zufolge zerstört oder schwer beschädigt. "Wenn man knapp ein Viertel aller Säulen verliert, egal in welchem Stockwerk, ist das Gebäude bedeutend geschwächt und vom Einsturz bedroht", sagt Hoffmann. Doch das Zerlegen der vertikalen Säulen war nicht die einzige Folge des Aufschlags. "Das Flugzeug schoss durch das Gebäude wie ein heißer und schneller Lavafluss", erklärt Sozen. Der habe einen großen Teil der Brandschutzverkleidung von tragenden Teilen abgerissen. "Schon die Hitze eines gewöhnlichen Bürofeuers würde genügen, den ungeschützten Stahl aufzuweichen und zu schwächen." Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass alle Säulen und Träger den Aufschlag überstanden hätten, hätte die Struktur nachgegeben. Schlag gegen Verschwörungstheorien Diese Ergebnisse, demnächst zu lesen im Fachblatt "Journal of Performance of Constructed Facilities" ( PDF- Dokument), dürften Verschwörungstheorikern kaum gefallen - etwa jenen, die hartnäckig behaupten, eine gezielte Sprengung habe dem Einsturz der WTC-Türme nachgeholfen. Andererseits waren sie auch in der Vergangenheit von nichts und niemandem von ihren Überzeugungen abzubringen. Das bekamen auch Hoffmann und seine Kollegen, die bereits den Anschlag auf das Pentagon am 11. September 2001 im Computer simuliert haben, nun erneut zu spüren. "Natürlich haben wir wieder Anrufe und Schreiben bekommen, in denen wir beschimpft und mit den üblichen, längst widerlegten Argumenten bombardiert wurden", sagt Hoffmann mit einem Schmunzeln. Die Tatsache etwa, dass die Studie zum Teil von der National Science Foundation der US-Regierung finanziert wurde, habe den Verschwörungstheoretikern gut ins Konzept gepasst. Hoffmann: "Jemand hat mal gesagt, dass die Realität oft nicht aufregend genug ist." Für manche Zeitgenossen gilt das sogar, wenn Flugzeuge in Hochhäuser rasen. Fotostrecke dazu: http://www.spiegel.de/fotostrecke/0,5538,22497,00.html Video: http://www.spiegel.de/videoplayer/0,6298,19172,00.html
(Typisch Ariva) |