Deutschland droht zu verdummen
Von Eva Engelken, Handelsblatt
„Deutschland schrumpft und altert“, lautet die gängigste Schlagzeile über die Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert. Doch das ist noch nicht alles. Die Deutschen werden auch dümmer – oder laufen zumindest Gefahr, es zu werden.
§ § DÜSSELDORF. Denn die Kinder, die noch geboren werden, kommen überwiegend aus „bildungsfernen Schichten“, wie Bundesfamilienministerin Renate Schmidt sagt. „Die Elite trägt nicht zur Reproduktion bei“, sagt Professor Wassilios Fthenakis, Direktor des Bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik. „Das Gebärverhalten unterscheidet sich nach nationaler Herkunft, Familienstand und Bildungsstand“, stellte der Wirtschaftsweise Bert Rürup kürzlich in einer Studie im Auftrag von Renate Schmidt fest. „Deutsche bleiben häufiger als Ausländerinnen kinderlos, Ledige häufiger als Verheiratete und höher Gebildete häufiger als Personen mit niedrigem Bildungsniveau“, so das Fazit.
Dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes zufolge sind in Westdeutschland 44,3 Prozent der 35- bis 39-Jährigen mit Hochschulabschluss oder Promotion kinderlos. Von den gleichaltrigen Frauen mit Hauptschulabschluss haben nur 23 Prozent keine Kinder. Die Kinderquote bei den Sozialhilfeempfängerinnen ist nicht gesondert gefasst. Die Statistik weist nur aus, dass 30 Prozent der Frauen ohne Schulabschluss kinderlos sind, was darauf hindeutet, dass Frauen mit geringem Einkommen eher auf Kinder verzichten. In Ostdeutschland liegt die Zahl der kinderlosen Akademikerinnen bisher nur bei 16 Prozent. Doch Entwarnung kann nicht gegeben werden: Denn auch diese Quote steigt.
Das Gebärverhalten der Deutschen gäbe keinen so großen Anlass zur Sorge, wenn zumindest die wenigen Kinder, die geboren werden, unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen auf Bildung und beruflichen Aufstieg hätten. Doch das ist nicht so, wie die Pisa-Studie der OECD von 2002 und die darauf folgende Iglu-Studie von 2003 bele-gen. „Deutschland leistet sich eine ungeheure Verschwendung von Talenten, indem es seine Kinder nicht so gut ausbildet, wie es nötig wäre“, sagt McKinsey-Chef Jürgen Kluge. Vor allem Armut ist ein Risiko für die Bildung, wie aus dem Armutsbericht der Bundesregierung hervorgeht. „Wer arm ist, hat schon im Vorschulalter mehr Probleme beim Sprechen, Spielen und Arbeiten.“ Die Gründe zählt die Arbeiterwohlfahrt in einer Studie auf: Eltern haben oft keine Zeit für ihre Sprösslinge, weil sie mit dem Geldverdienen beschäftigt sind. Nicht selten fehlt der Platz, wo Kinder in Ruhe die Hausaufgaben erledigen können. Wer arm ist, ist häufiger krank; und wer nicht gesund ist, lernt schlechter. Wer trotzdem gut lernt, muss gegen das Handicap seiner Herkunft kämpfen: Schüler, deren Eltern nicht auf dem Gymnasium waren, erhalten seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium. Dies war der Befund der Iglu-Ergänzungsstudie, den Politiker aller Parteien im letzten Jahr als den alarmierendsten bezeichneten.
Die Folgen dieser Misere – und möglicherweise die ersten Anzeichen der Geburtenverlagerung in niedere Bildungsschichten – sind schon jetzt sichtbar. Ein Zehntel aller Hauptschüler bleibt ohne Abschluss, die Zahl der funktionalen Analphabeten, die zwar Buchstaben gelernt haben, aber nicht im Stande sind, den Inhalt einfacher Texte zu erfassen, liegt bei vier Prozent. Nicht erst seit dem Streit um den Ausbildungspakt beklagt die Wirtschaft zunehmende Mängel bei Basiskenntnissen in Deutsch und Mathematik. Und wenn eine Familie einmal Sozialhilfe bezieht, vererbt sie diese Neigung zum Bezug der Unterstützung auch an ihre Kinder, so eine jüngst erschienene DIW-Studie.
Dass dem Ungleichgewicht entgegengewirkt werden muss, ist den Beteiligten aus Politik und Wirtschaft inzwischen klar. Auf zwei Felder konzentrieren sich die Bemühungen. Einerseits auf die potenziellen Eltern, denen die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie die Erfüllung ihrer Kinderwünsche erleichtern soll. Andererseits auf die bessere Förderung der Kinder, und zwar neben dem von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn mit vier Mrd. Euro geförderten Ausbau der Ganztagsschulen immer stärker – und das ist neu – auf die Frühförderung der Kinder. Die Bevölkerung ist längst dafür. So hält ein Drittel der Bundesbürger Kinder im Kindergarten für unterfordert, und 70 Prozent befürworten mehr Investitionen in Bildung, wie McKinsey Ende 2003 in einer Online-Umfrage unter 450 000 Teilnehmern ermittelte. „Es ist kostengünstiger, bereits im Vorschulalter den Grundstein für eine möglichst hohe Bildungsbeteiligung zu legen, als Defizite in späteren Ausbildungsphasen auszugleichen“, sagt Hans Barth, Beiratsvorsitzender der Prognos AG, einer Unternehmensberatung, die seit langem die wirtschaftlichen Effekte der demographischen Entwicklung untersucht.
Unter dem Motto „Starting strong“ nimmt Deutschland erstmals an der internationalen Vergleichsstudie der OECD zur frühkindlichen Förderung teil, wie Ministerin Schmidt unlängst bekannt gab. Unter anderem mit den Stiftungen von Bertelsmann, Bosch und Hertie setzen sich führende Wirtschaftsvertreter für die Kinderförderung und die Schaffung von mehr Chancengleichheit ein. Auf Länderebene gibt es in allen Ländern mittlerweile Bildungs- und Erziehungspläne auch für Vorschulkinder.
Real erprobt wird die Förderung auf dem Gebiet von Sprache, Kunst und Naturwissenschaft aber vorerst nur in Bayern, wo 100 Kindergärten den Plan probehalber anwenden. Der schnelleren Umsetzung der Erkenntnisse über die Ursachen des Bildungsnotstands steht vor allem ein „Systemfehler im deutschen Bildungssystem“ entgegen, wie Professor Fthenakis und andere Fachleute kritisieren: Die für die Studenten kostenlosen Universitäten und Fachhochschulen erhalten die meisten öffentlichen Mittel. Am wenigsten Geld gibt es für die Kindereinrichtungen, die noch dazu kostenpflichtig sind. „Eine zusätzliche Ungerechtigkeit für die bildungsschwachen Schichten, die durch ihre Steuern mehr für die von ihnen seltener genutzten Universitäten bezahlen, als sie in Form von kostenloser Bildung zurückbekommen“, so der Dortmunder Sozialstatistiker Walter Krämer.
HANDELSBLATT, Dienstag, 13. Juli 2004, 08:16 Uhr |