„Ich komme aus dem Hinterhalt“ Von Rainer Seele, Genf
| "Ich habe einen Riesenrückstand” | Es ist stickig in der Bar des Hotels „Ibis“ in Genf, Schweißperlen rinnen über die Stirn von Jan Ullrich. Beileibe kein Ort der Ruhe, der Besinnung; es ist eine Herberge für Geschäftsleute, der Flughafen von Genf liegt gleich gegenüber.
Ullrich ist nun immerhin zurückgekehrt in den Kreis der Handlungsreisenden, und er versucht seine Genugtuung darüber auszudrücken. „Es ist höchste Zeit, einzusteigen“, sagt er. Ullrich hat dafür die Tour de Romandie gewählt, notgedrungen. Sie begann am Dienstag mit einem Prolog in Genf, Ullrich und seine Kollegen mußten dabei am frühen Abend lediglich 3,4 Kilometer zurücklegen; ein Klacks natürlich für Radprofis, die daran gewöhnt sind, stundenlang im Sattel auszuharren. „Ich bin gar nicht so schlecht“ | „Auf der Waage bin ich im Limit” |
Ullrich hatte ja auch längere Ausfahrten machen können in jüngerer Vergangenheit, aber es handelte sich dabei lediglich um Training; er hatte vor der Tour de Romandie kein einziges Rennen in dieser Saison bestritten. So spät wie er stellte sich kaum ein anderer Rennfahrer dem Wettbewerb, schon gar nicht jene Männer, die bei der Tour de France im Juli Großes vollbringen wollen. Ullrich plant das noch immer, es ist sein „ganz großes Ziel“ wie in all den Jahren zuvor - stets hatte er den ersehnten Coup verpaßt. Die Gefahr besteht aufs neue nach einem Frühjahr, in dem Ullrich wieder einmal aus der Bahn geworfen worden ist, vorübergehend jedenfalls: Reizung des rechten Knies, der Saisonstart, Anfang April vorgesehen, mußte verschoben, das Übungsprogramm reduziert werden. Der Kapitän des T-Mobile-Teams ist nun wenigstens wieder beschwerdefrei. Seit zehn Tagen, sagt er, sei seine Verfassung wieder so, „daß ich wie ein Profi trainieren kann“. Ullrich bemüht sich, Optimismus zu zeigen, zu betonen, daß er den Rückstand gegenüber seinen Konkurrenten wie Ivan Basso noch wettmachen könne. „Ich zweifle nicht an mir“, sagt er, „jetzt kann ich wieder kämpfen. Das ist für mich der erste Sieg.“ Doch man glaubt auch, eine gewisse Unsicherheit bei dem Rostocker, der eher verhalten über seine Befindlichkeit spricht, zu spüren. Er nahm auch eine Fahrt ins Ungewisse auf, vorläufig ständig begleitet von der Frage: Wird die Zeit tatsächlich noch reichen, um bis zum Juli in Höchstform zu kommen und sich den Traum, endlich zum zweiten Mal die Tour zu gewinnen, erfüllen zu können? Ullrich räumt zwar ein, daß „ich noch eine Menge aufzuholen habe“. Andererseits verweist er darauf, trotz seiner jüngsten Malaise nicht allzuviel an Qualität verloren zu haben. „Ich bin gar nicht so schlecht“, erzählt er, „die Kilometer sitzen in den Beinen.“ Ullrich will Riis im Sommer antworten | "So spät bin ich noch nie in die Saison gestartet" |
Ein Hinweis auf die angeblich wirkungsvolle Arbeit seit Dezember: Ullrich hielt sich in Südafrika auf und später auch mehrmals in der Toskana, er will dabei gute Grundlagen für das Jahr 2006 gelegt haben. „Ich habe ja nicht geschlampt.“ Allerdings mangelt es ihm an Erfahrungen mit Höchstbelastung. „Das Herz mal wieder auf 190 zu jagen, das fehlt mir.“ Dafür soll nun die Tour de Romandie sorgen, „ich suche die intensiven Kilometer“. Aber natürlich nicht den Schlagabtausch mit den Besten, mit denen sich Ullrich noch nicht wieder messen kann. Ihm schwant, daß er in den nächsten Tagen in den Schweizer Bergen wohl deutlich ins Hintertreffen geraten wird. Das gehört zwangsläufig zu seiner Strategie, um sozusagen auf den letzten Drücker noch entscheidend voranzukommen: „Ich scheue mich nicht, mich abhängen zu lassen.“ Nun werden auch wieder die Pfunde purzeln, keine Frage - allerdings kann keine Rede davon sein, daß Ullrich derzeit gleich zehn Kilogramm Übergewicht hat, wie Bjarne Riis es angeblich festgestellt hat. Ullrich ist vom Idealgewicht zwar noch ein Stückchen entfernt. Das sei für ihn aber nicht beunruhigend, versichert der genußfreudige Profi, er wähnt sich „im Limit“. Der Däne, Chef des Rennstalles CSC, und sein früherer Kompagnon Ullrich waren sich vor knapp zwei Wochen in der Toskana kurz begegnet. Danach soll sich Riis gegenüber einer dänischen Zeitung über den vermeintlich schlechten Zustand des deutschen Radstars ausgelassen haben. „Ich habe mich auch gewundert“, sagt Ullrich, „daß Bjarne das in zehn Sekunden alles sehen kann.“ Die entsprechende Replik soll noch kommen, demnächst im Juli. „Ich habe Charakter genug“, sagt Ullrich, „um im Sommer darauf zu antworten, mit Leistung.“ Genug mit sich selbst zu tun | "Die Grundlage ist da: Ich habe im Winter gut trainiert“ |
Riis war in der Toskana mit einem Motorroller an Ullrich vorbeigebraust, hinter dem Dänen trat der Italiener Basso kräftig in die Pedale. Just der Mann also, der als einer der aussichtsreichsten Kandidaten bei der Tour de France gilt und der in den zurückliegenden Wochen auch mit einigen bemerkenswerten Auftritten auf sich aufmerksam machte. Ullrich geriert sich freilich so, als würde ihn das nicht sonderlich beeindrucken. Vielleicht, sagt er, sei das frühe Hoch von Basso sogar ein Vorteil. Die Bemerkung beinhaltet die vage Hoffnung, daß der Italiener in dänischen Diensten im Sommer schon ein bißchen an Kraft eingebüßt haben könnte. Allerdings mag sich Ullrich mit seinen Rivalen gar nicht nachhaltig beschäftigen. „Ich gucke nicht so weit nach links oder rechts.“ Er hat ja auch genug mit sich selbst zu tun. Im Mai werden sich Ullrich und Basso vermutlich wieder treffen; beide nehmen als weitere Vorbereitung auf die Tour den Giro d'Italia in Angriff. Ullrichs zweiter Schritt Richtung Frankreich in einer speziellen Rolle: „Ich komme aus dem Hinterhalt“, sagt er, „ich habe keine großen Ängste wegen der Tour.“ Aber auch die kleinen sind belastend genug. Text: F.A.Z. vom 26. April 2006 |