Es soll für den Augenblick die Andeutung genügen, daß die beispiellose Entfaltung der westlichen Musik sich nur aus der Notwendigkeit verstehen läßt, einen kulturweit überzeugenden Ersatz für die verlorene Wüste und das versperrte klösterliche Refugium zu erzeugen. [...] In den letzten hundert Jahren hat sich Musik als Übergangsdrittheit etabliert, mit der das Zeitalter ohne Wüste seinen Bedarf an Weltflüchtigkeit zu decken versucht. Der künstliche Klangangriff auf die äußeren Weltgeräusche hat in diesem Jahrhundert eine in der gesamten Gattung vorbildlose Intensität erreicht. Aber anders als die Wüste, die das Innere freizusetzen half, überspült die massenmediale Musikalisierung aller Räume die letzten Lücken freier Innerlichkeit: Seinsvergessenheit aus allen Lautsprechern; niedere Wertlosigkeit in jedem Haushalt zu jeder Tageszeit.
[P. Sloterdijk - Weltfremdheit. II Wohin gehen die Mönche? Über Weltflucht in anthropologischer Sicht. 3. Die westliche Umleitung - Weltflucht nach vorn. S. 114 f.] |