veröffentlicht: 14.07.05 - 13:20 Bei der Explosion eines Busses in London kam auch der Attentäter ums Leben. Er ging freiwillig in den Tod. Foto: AP Paris/London (rpo). Bis zu den Anschlägen auf das World Trade Center in New York war das Phänomen in der westlichen Welt kaum bekannt. Doch seitdem sind Selbstmordattentäter auch für Europa zu einer ständigen Bedrohung geworden. Nach Einschätzung von Experten ist es vor allem ein Gefühl der Erniedrigung, das Menschen dazu bringt, ihr eigenes Leben für den Tod vieler anderer zu geben. Vielfach besteht die Vorstellung, der Täter sei ein wahnsinniger Einzelgänger, Fanatiker oder schlicht ein skrupelloser Mörder. Tatsächlich aber kommen die meisten Selbstmordattentäter nach Erkenntnissen von Fachleuten aus "ganz normalen" Familien, gehen einer regelmäßigen Arbeit nach und haben Freunde. Attentäter wie jene, die vergangene Woche in London mehr als 50 Menschen töteten, leben scheinbar harmlos nebenan.
Shehzad Tanweer etwa, einer der mutmaßlichen Selbstmordattentäter von London, lebte brav bei seinen Eltern im nordenglischen Leeds und studierte dort. Der 22-Jährige spielte Cricket und war "jemand, der sich gut mit allen versteht", wie einer seiner Freunde sagt.
Ein weiterer Verdächtiger, der 19-jährige Hasib Mir Hussain, wohnte mit seiner Familie schon immer in ein- und demselben Haus in einem Vorort von Leeds; die Hussains gelten bei Nachbarn als "sehr nette Leute". Der Führerschein ihres Sohnes wurde in dem von einer Bombe zerfetzten Doppeldeckerbus gefunden.
"Eine Untersuchung nach der anderen zeigt, dass Selbstmordattentäter und ihre Helfer nur selten ungebildet oder arm sind", sagt Scott Atran vom französischen Forschungszentrum CNRS. "Sie sind auch nicht verrückt, feige, teilnahmslos oder asozial. Die übliche Fehlauffassung unterschätzt die wesentliche Rolle, die organisatorische Faktoren bei der Anziehungskraft von Terrororganisationen spielen."
Der israelische Psychologe Ariel Merari von der Universität Tel Aviv forscht zu Selbstmordattentätern im Nahen Osten und kommt zu dem Ergebnis, dass "man bei den meisten keinen der Risikofaktoren findet, die üblicherweise mit Selbstmord in Verbindung gebracht werden, wie Stimmungsschwankungen oder Schizophrenie, Drogenmissbrauch oder Selbstmordversuche".
Opfer des eigenen Lebens als Ausweg
Was Selbstmordattentäter den Fachleuten zufolge vor allem gemein haben, ist ein Gefühl von Ungerechtigkeit oder Erniedrigung, ein Gefühl der Verzweiflung, die sich nur auflösen lässt, indem sie sich selbst opfern.
Moslems, die nicht in Krisengebieten leben wie die pakistanischstämmigen Verdächtigen von Leeds, hätten vielfach den Eindruck, der Islam und seine Anhänger befänden sich in einem feindlichen Umfeld und würden angegriffen. Das mache sie anfällig für die Werbungsversuche der Terrororganisationen, schreibt Atran.
Die Drahtzieher der Anschläge seien ständig auf der Suche nach neuen "fähigen und hingebungsvollen" Rekruten. Ist eine solche Person gefunden, so bestehe der nächste Schritt darin, ihr das Märtyrertum schmackhaft zu machen. Das gelinge nur, wenn ein diszipliniert arbeitendes, gut organisiertes Netzwerk im Hintergrund den Kult des Selbstmordanschlags zelebriere.
Rückzieher wird unmöglich
Der Rekrut findet sich laut Atran dann in einer Art "Bruderschaft" wieder, die seine Taten glorifiziert und ihm weismacht, sein Tod könne künftigen Generationen Freiheit bescheren - und ihm selbst ewige Glückseligkeit im Paradies.
Der Punkt, an dem er nicht mehr zurückkann, sei erreicht, wenn er einen Abschiedsbrief verfasst oder ein Abschiedsvideo aufnimmt. Dann sei der künftige Selbstmordattentäter psychologisch so weit eingestellt, "dass es unvorstellbar erniedrigend für ihn wäre, einen Rückzieher zu machen", schreibt Atran.
So muss es wohl auch den mutmaßlichen Attentätern von London gegangen sein - dem allseits beliebten Tanweer aus Leeds, dem freundlichen Hussain, den seine Eltern am Tag der Anschläge vermisst meldeten, und dem 30-jährigen Eliaz Fiaz, über den bislang nur wenig bekannt ist.
Mohammed Sadique Khan war mit 30 Jahren der älteste unter den vier Verdächtigen; er hatte ein abgeschlossenes Studium, und er arbeitete mit Behinderten, wie seine Nachbarn sagen. Er sprengte sich offenbar in die Luft, während zu Hause seine Frau und seine acht Monate alte Tochter auf ihn warteten.
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