Gezielte Wirkung im Kampf gegen Tumore Erfolg in kleinen Schritten: Wissenschaftler sind weiteren Schwachstellen der Tumoren auf der Spur Krebs
Neue Erkenntnisse über die Entstehung von Tumoren erleichtern das Entwickeln individueller Krebstherapien. Impfungen sollen den Ausbruch der Krankheit künftig verhindern.
Ein Lächeln umspielt James Watsons Lippen. Die wachen Augen des 79-Jährigen Pioniers der Genforschung fixieren freundlich, aber fest die Forscher und Journalisten, die das US-Biotech-Unternehmen 454 Life Sciences im texanischen Houston eingeladen hat. Watson ist eine Legende, seit er 1953 zusammen mit Francis Crick die Struktur der DNA entschlüsselte, der Erbsubstanz jeglichen Lebens.
Jetzt sorgt er für einen neuen Meilenstein in der Genforschung: Forscher des Biotech-Unternehmens 454 haben für knapp eine Million Dollar in zwei Monaten Watsons komplettes Erbgut entschlüsselt. „Ich bin so aufgeregt, mein Genom zu sehen“, ruft Watson in den Saal. Er will es nicht für sich haben, sondern der Wissenschaft geben. Die Daten sollen den Forschern helfen, die Entstehung von Krankheiten aufzuklären und sie zu heilen. Watsons Auftritt ist ein Protest gegen die vielen gesetzlichen Einschränkungen bei der Freigabe von Genomen. „Die werden bewacht, als handele es sich um nukleare Waffen.“
Wie Watson hat auch Craig Venter sein Erbgut der Allgemeinheit gestiftet. Der Gründer von Celera hat die Entschlüsselung des menschlichen Genoms entscheidend vorangetrieben. Dass zwei so bekannte Forscher Grenzen übertreten, soll andere ermutigen.
Die Übergabe zeitgleich zur Eröffnung des mit rund 30.000 Teilnehmern weltweit größten Krebskongresses in Chicago, zu dem die American Society of Clinical Oncology (ASCO) eingeladen hatte, war gut kalkuliert. Denn gerade Genanalysen haben sich zu einem elementaren Werkzeug im Kampf gegen Krebs entwickelt. Der Blick ins Erbgut verrät Forschern und Ärzten immer häufiger, ob Patienten ein erhöhtes Risiko in ihrem Erbgut tragen, an Krebs zu erkranken, und welche Therapie einem Patienten hilft.
Klar ist heute, dass es nicht das eine Wundermedikament geben wird, das sich gegen nahezu alle Krebsarten einsetzen lässt. Stattdessen setzen die Wissenschaftler auf individuelle Therapien. Dafür suchen sie nach Wirkstoffen, die eine Krebszelle auf ihrer Hülle oder in ihrem Innern angreifen. Frühere und bessere Diagnosen sollen die Heilungschancen verbessern; Impfungen sollen Krebs gar verhindern. Die gezielter wirkenden Stoffe stellen bereits drei Viertel aller neuen Krebsmedikamente, rund ein Dutzend sind zugelassen. Der Löwenanteil von weltweit rund 400 Wirkstoffen, die derzeit klinisch erprobt werden, gehören zu dieser Spezies. Die Umsätze steigen jährlich um rund 20 Prozent. Bis zum Ende des Jahrzehnts werden sie sich nach Schätzung des Marktforschungsunternehmens IMS Health auf 70 Milliarden Dollar verdoppeln. Alle großen Pharmakonzerne sind an Bord. „Krebsforschung hat für uns die höchste Priorität“, sagt David Epstein, Chefonkologe von Novartis. „Wir haben sieben Substanzen gegen elf verschiedene Krebsarten in zulassungsrelevanten klinischen Studien.“
Um schnell zu Ergebnissen zu kommen, arbeiten die Forscher der Novartis Institutes for Biomedical Research (NIBR) wie andere Hersteller in internationalen Netzen mit, Novartis an sieben Standorten in den USA, Europa und Asien.
Krebs ist trotz des medizinischen Fortschritts nach Herz- und Kreislaufkrankheiten weltweit die zweithäufigste Todesursache. In Deutschland erkranken jedes Jahr mehr als 400.000 Menschen – Tendenz steigend. Die Zunahme hängt mit der höheren Lebenserwartung zusammen. Im Alter nimmt nicht nur die genetische Stabilität ab. Der Körper verliert auch an Fähigkeit, entartete Zellen, die Ursache für die Tumoren, zu reparieren. Deshalb steigt die Zahl der Erkrankungen vom 60. Lebensjahr an deutlich an. Als wichtigster Einzelrisikofaktor gilt Tabakrauch, aber auch UV-Strahlen, hormonelle Einflüsse und genetische Disposition erhöhen die Gefahr, an Krebs zu erkranken.
Der erste Schritt, den Krebs zu bekämpfen, ist immer noch, den Tumor in einer Operation zu entfernen. Danach erhalten Patienten eine Strahlen- und Chemotherapie, um gestreute Krebszellen zu vernichten, die im Körper Tochtergeschwülste bilden könnten. Das Problem dabei: Bestrahlung und Zellgifte vernichten nicht nur kranke, sondern auch gesunde Zellen. Was den Kranken heilen soll, schadet ihm zugleich – manchmal so sehr, dass eine Therapie abgebrochen werden muss, etwa wenn die Zellen im Knochenmark nicht mehr genügend Blut bilden. „Die Zellgifte wirken zu unspezifisch“, sagt Otmar Wiestler, Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg.
Einen Ausweg bieten maßgeschneiderte Therapien. Sie zu entwickeln ist allerdings extrem aufwendig, wie das Beispiel Brustkrebs zeigt. In Deutschland erkranken jährlich 50.000 Frauen daran, so häufig wie an keinem anderen Krebs. Weltweit ist Brust- nach Hautkrebs die zweithäufigste Krebsart bei Frauen. Jeder Brustkrebs ist jedoch anders. Je genauer die Forscher hinschauen, desto mehr Unterschiede entdecken sie, desto feiner wird die Klassifizierung. Und es ergeben sich neue Fragen: Welcher Tumor bedarf einer Chemotherapie? Wo wirken Hormonblocker besser? Die Wissenschaftler suchen beinahe bei jedem einzelnen Tumor nach einem geeigneten Angriffspunkt.
Dafür spielen Gentests eine immer bedeutendere Rolle. Das ist ein Grund, warum sich die Koryphäen Watson und Venter so vehement für ihre Weiterentwicklung einsetzen. Um noch zuverlässiger zu wissen, ob beispielsweise ein Brustkrebstumor auf weibliche Hormone wie Östrogen und Progesteron mit verstärktem Wachstum reagiert, hat Holger Sültmann vom DKFZ einen neuen Gentest ausgetüftelt. Der weist die Andockstellen für diese Hormone anhand von zehn charakteristischen Genen in oder auf der Krebszelle sicher nach. Bisher fahnden Labors mit angefärbtem Tumorgewebe unter dem Mikroskop nach solchen Bindungsstellen. Besitzt der Tumor nur wenige davon, kann er im Labor oft nicht als hormonempfindlich identifiziert werden und bleibt möglicherweise unbehandelt. Ärzte wissen jedoch, dass Hormonblocker auch dann gegen die entarteten Zellen wirken, wenn die Krebszellen nur wenige Bindungsstellen für Hormone haben.
Werden die Hormone durch Medikamente wie Tamoxifen von AstraZeneca blockiert, wuchern die Zellen langsamer oder die krankhafte Teilung hört sogar ganz auf. „Diese Behandlung ist bei hormonempfindlichen Tumoren oft wirksamer als eine Chemotherapie“, sagt Wiestler. Gentests können zudem für Frauen sinnvoll sein, deren Mutter vor dem 50. Lebensjahr an Brustkrebs erkrankt ist. Dann ist das Risiko selbst zu erkranken deutlich erhöht. Von den 50.000 Frauen, die jährlich erkranken, leiden 2500 bis 5000 Patientinnen an der erblichen Form des Brustkrebs, wobei die Hälfte von ihnen aufgrund einer Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2 erkrankt. Aber nicht alle Frauen, bei denen das Gen nachgewiesen ist, bekommen auch tatsächlich Krebs. Denn jedes Gen liegt im Zellkern doppelt vor, eines von der Mutter, eines vom Vater. Vererbt die Mutter das Brustkrebsgen und der Vater ein gesundes, bricht meist kein Krebs aus. Es müssen noch andere Faktoren hinzukommen. Ärzte raten Frauen bei denen eine Genveränderung gefunden wurde, an einem Früherkennungsprogramm teilzunehmen. Die Brust wird dabei mit Ultraschall, Kernspin und Röntgengeräten durchleuchtet. So hoffen sie, Tumoren möglichst früh zu entdecken und sie zu entfernen.
Die Forscher sind noch weiteren Schwachstellen der Tumoren auf der Spur. So tragen zwei bis drei von zehn Patientinnen ungewöhnlich viele sogenannte Her-2-Schalter auf der Oberfläche ihrer Krebszellen. Sobald dort Wachstumsfaktoren anschwemmen, treiben diese die Zellen dazu an, sich ungewöhnlich schnell zu vermehren. Genau das soll eine Art biologische Präzisionswaffe verhindern: Monoklonale Antikörper, das sind große Moleküle, besetzen die Her-2-Schalter, sodass sich die Wachstumsfaktoren nicht mehr darauf setzen können.
Vor sieben Jahren wurde der synthetische Antikörper Herceptin von Roche zugelassen, zunächst nur für Patientinnen mit Metastasen. Seit Sommer 2006 ist Herceptin auch für Frauen zugelassen, die Her-2-positiv sind, aber keine Metastasen haben. Die Rückfallgefahr sinkt dadurch deutlich. In Chicago vorgestellte Studien weisen allerdings auf das Risiko von Herzschäden hin, weil sich Her-2-Rezeptoren auch auf Herzmuskelzellen finden. Deshalb muss die Herzfunktion während der Behandlung überwacht werden.
Eine weitere Medikamentengruppe, auf die Pharmaunternehmen und Patienten gleichermaßen hoffen, sind Wirkstoffe, die den Tumor aushungern, sogenannte Angiogenesehemmer (siehe Grafik oben). Um zu wachsen und Tochtergeschwülste zu bilden, ist der Tumor ab einer gewissen Größe darauf angewiesen, neue Blutgefäße zu bilden, über die er ausreichend mit Nährstoffen versorgt wird. Um diese Neubildung von Gefäßen, die sogenannte Angiogenese, anzuregen, setzt er einen körpereigenen Botenstoff frei, den Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor). Neue Wirkstoffe wie Bevacizumab von Roche blockieren ihn. Die Folge: Der Tumor hungert aus.
Das Marktpotenzial für diese Angiogenese-Hemmer schätzt die Schweizer Bank Vontobel auf 13 Milliarden Dollar. Das bisher meistverkaufte Präparat aus dieser Klasse ist Avastin, ebenfalls vom Schweizer Pharmahersteller Roche und dessen Tochter Genentech aus San Francisco. Jüngste, in Chicago vorgestellte Studien belegen, dass Avastin bei Brust-, Lungen- und Nierenkrebs positive Effekte zeigt. Bisher wurde das Medikament vor allem für die Behandlung von Darmkrebs eingesetzt.
Bis heute versprechen die wenigsten Wirkstoffe eine Heilung, aber sie verlängern das Leben. So präsentierte Bayer eine Untersuchung, nach der Patienten mit einem Leberzellkarzinom im Durchschnitt drei Monate gewinnen, wenn sie mit dem Medikament Nexavar behandelt werden. Bayer setzt das Mittel auch gegen Nierenkrebs ein. „Da es bis jetzt keine Therapie gibt, die die Überlebenszeit der vielen Tausend Patienten mit Leberkrebs deutlich verlängert, können die Ergebnisse Nexavar zur Standardtherapie für Leberkrebs werden lassen“, hofft Josep Llovet, Leiter der Studie. Bayer will die Zulassung in den USA und Europa noch in diesem Jahr beantragen.
Verbissen kämpfen die Wissenschaftler um jeden Monat. Der große Durchbruch zeichnet sich jedoch auch nach Jahrzehnten der Forschung und Milliardenausgaben nicht ab. „Wir verzeichnen Erfolge in kleinen Schritten“, sagt Leonard Lichtenfeld von der American Cancer Society. Besonders nachhaltig sind sie bei der Behandlung von Brustkrebs: In der Achtzigerjahren starben 27 Prozent der Patientinnen im Verlauf von fünf Jahren, zehn Jahre später waren es noch 20 Prozent. Hodenkarzinome sind heute fast zu 100 Prozent heilbar. Kaum verbessert haben sich dagegen die Chancen bei Lungenkrebs, dem häufigsten Krebs bei Männern in Deutschland.
60 Prozent der Menschen, bei denen Anfang dieses Jahrzehnts in Deutschland Krebs diagnostiziert wurde, lebten fünf Jahre später noch. Das besagt eine Statistik des Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Nach Berechnung des DKFZ-Epidemiologen Hermann Brenner werden unter denen, die heute an Krebs erkranken, 64 Prozent in fünf Jahren noch leben. Brenner macht Mut: „Der Kampf gegen den Krebs trägt Früchte.“
Beispiel Gebärmutterhalskrebs: Lange galt er als nahezu unheilbar, weil er anfangs meist schmerzlos verläuft und deshalb oft zu spät entdeckt wird. Jetzt steht erstmals ein Impfstoff zur Verfügung, der die Entstehung verhindern soll. Der Krebs wird von humanen Papillomviren (HPV) ausgelöst, die beim Geschlechtsverkehr übertragen werden. Das hatte der ehemalige Leiter des DKFZ, Harald zur Hausen, 1983 entdeckt. Es gibt rund 100 verschiedene Arten von HPV, doch bei sieben von zehn Frauen mit Gebärmutterhalskrebs finden sich zwei HPV-Typen: HPV 16 und HPV 18.
Seit Oktober 2006 ist in Deutschland der Impfstoff Gardasil von Sanofi Pasteur MSD zugelassen, der an Mädchen und Frauen im Alter von 10 bis 26 Jahren getestet wurde. In Chicago stellte GlaxoSmithKline eine Studie zum Impfstoffkandidaten Cervarix vor, wonach auch Frauen über 26 Jahre geschützt werden. Noch nach mehr als fünf Jahren lag der Schutz bei fast 100 Prozent. Cervarix soll noch dieses Jahr die Zulassung erhalten.
Gute Nachrichten gibt es auch von der Behandlung einer speziellen Form des Blutkrebses, der chronischen myeloischen Leukämie. Noch vor wenigen Jahren glich diese Diagnose einem Todesurteil. Dann brachte Novartis 2001 mit Glivec ein Medikament auf den Markt, das 90 Prozent der Patienten heilt. Die Schweizer setzten damit im vergangenen Jahr rund zwei Milliarden Euro um. „Das war der Beginn einer Revolution“, sagt der Marburger Onkologe Andreas Neubauer. Der Wirkstoff von Glivec, Imatinib, ist ein ganz kleines chemisches Molekül, im Fachjargon „Small Molecule“ genannt. Es hemmt ein Eiweiß, die Proteinkinase, deren Bauplan wie bei allen Proteinen durch Gene festgelegt ist. Normalerweise sind diese Eiweiße für die Signalweiterleitung in der Zelle zuständig. Wird diese Funktion durch ein defektes Gen gestört, fördern sie stattdessen das Wuchern der Zellen und verhindern, dass kranke Zellen absterben.
Roman Thomas, Wissenschaftler am Kölner Max-Planck-Institut für neurologische Forschung, sagt weitere große Fortschritte voraus: „In zehn Jahren werden die Therapien für einige Krebsarten so weit sein, dass die Patienten nicht mehr sterben, allerdings ihr Leben lang Medikamente nehmen müssen.“ [27.06.2007] juergen.rees@wiwo.de Aus der WirtschaftsWoche 26/2007.
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