SEXVORWURF GEGEN VIERJÄHRIGEN
"Für den Rest seines Lebens abgestempelt"
Im texanischen Waco wurde ein Vierjähriger vom Kindergarten suspendiert, weil er seine Lehrerin "unzüchtig" umarmt hatte. Der Vorwurf: "sexuelle Belästigung". SPIEGEL ONLINE sprach mit David Davis, dem Direktor des Advocacy Centers for Crime Victims & Children in Waco, über den bizarren Vorfall.
SPIEGEL ONLINE: Mr. Davis, erklären Sie uns doch mal, wie man einem vierjährigen Jungen sexuelle Belästigung vorwerfen kann?
Davis: Zu den Details dieses Falls kann ich mich nicht äußern, dies ist eine Sache der unabhängigen Schulverwaltung. Der Vorwurf kann aber durchaus auch auf Kinder zutreffen, sofern ihr Verhalten Normabweichung zeigt.
SPIEGEL ONLINE: Eine Umarmung ist eine Normabweichung?
Davis: Ich meine, wenn ein Kind nicht auf Verhaltenskorrekturen reagiert. Meist ist sexuell unangemessenes Benehmen wiederum ein Zeichen dafür, dass das Kind selbst sexuell misshandelt wurde oder wird. Wobei das hier aber nicht der Fall ist. Ich bezweifle, dass dieser Fall solche Kriterien erfüllt.
SPIEGEL ONLINE: Mit anderen Worten, auch Sie missbilligen die Suspendierung?
Davis: Wie gesagt, ich kenne die Details nicht.
SPIEGEL ONLINE: Aber einen Vierjährigen als Sexualstraftäter zu brandmarken ist doch absurd. Das hat doch nichts mit Sex zu tun - selbst wenn eine Kinder-Umarmung vielleicht auch mal, wie der Vorwurf hier, etwas zu weit geht.
Davis: Deshalb müssen wir ihnen sagen: "So etwas tut man nicht." Wir müssen ihnen den Unterschied erklären zwischen einer "guten Umarmung" und einer Umarmung, bei der man sich unbehaglich fühlt. Wenn Grenzen verwischen, muss man sie neu setzen. Aber nie darf man ein Kind bei so etwas als Übeltäter abstempeln.
SPIEGEL ONLINE: Was hier geschehen ist.
Davis: Ja, leider. Es darf nicht sein, dass wir den Jungen für den Rest seiner Schulzeit oder sogar seines Lebens abstempeln.
SPIEGEL ONLINE: Ist Ihnen so etwas in Waco überhaupt schon mal untergekommen?
Davis: Nein, nichts von diesem Ausmaß und mit diesen weltweiten Reaktionen.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Existenz ihrer Organisation, die ja eine Art Kinderschutzbund ist, legt nahe, dass es in Waco andersrum schon Fälle gibt, bei denen Kinder von Erwachsenen sexuell belästigt werden.
Davis: Ja, das ist hier nicht gerade selten.
SPIEGEL ONLINE: Nicht gerade selten?
Davis: Wir haben in Waco etwa 330 bis 350 Fälle pro Jahr, bei denen wir Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs identifizieren oder zumindest der Verdacht besteht. Wobei so etwas meist unentdeckt bleibt. Die meisten Kinder werden von ihren Peinigern bedroht und zum Stillschweigen gezwungen.
SPIEGEL ONLINE: Kritiker sagen, der jetzige Fall sei eine Konsequenz einer zunehmend verklemmten Gesellschaft, in der überhaupt nicht mehr offen über Sex geredet wird oder nur in sensationslüsterner Weise. Sehen Sie das ähnlich?
Davis: Stimmt, unsere Kultur könnte das Gespräch über Sexualität sicher besser führen. Es scheint, dass uns allen dieses Thema immer unbequemer wird.
SPIEGEL ONLINE: Kein gutes Vorbild für Kinder.
Davis: Ja, wie oft reden wir mit Kindern noch offen über Sex? Wir müssen frei darüber sprechen können, selbst am Abendbrottisch.
SPIEGEL ONLINE: Aber offenbar nicht im Kindergarten. Zeigt dieser Fall jetzt nicht eher in die entgegengesetzte Richtung?
Davis: Ja, mir scheint es hier eine Art Überempfindlichkeit zu geben. Erwachsene werden immer sensibler und ängstlicher, selbst in den Verdacht sexuellen Missbrauchs von Kindern zu kommen. Ich fürchte, dass wir uns eines Tages gar nicht mehr berühren dürfen. Wer weiß heute schon noch, was eine angemessene Berührung ist und was nicht? Wir haben viel zu tun in dieser Hinsicht.
Das Interview führte Marc Pitzke
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