Den mächtigen Miethai frisst neuerdings der arme kleine Fisch
Es gibt Anwälte (vor allem solche, die Mieter vertreten), die halten das Mietnomadentum für eine Erfindung. Vielleicht gebe es da ein paar Kandidaten, die sich nach dem Motto »Beute aus, die dich ausbeuten« durchschlagen. Vielleicht gebe es auch einige professionelle Betrüger. Aber mit dem Blick auf diese Außenseiter werde doch nur abgelenkt von den eigentlichen Schieflagen, von überhöhten Mietpreisen oder dem Verkauf von Mietshäusern auf Kosten der Bewohner. Die allermeisten Mieter, die nicht zahlen, flögen ja wohl raus, sagt der Jurist Christian Emmerich. Über kurz oder lang. Zum Berliner Mieterverein sei zwar auch noch kein Miettourist persönlich gekommen, sagt dessen Geschäftsführer Reiner Wild, doch dass es solche schwarzen Schafe gibt, da ist er sich sicher. Ein Phänomen mit Nachahmungspotenzial, das das Häuserbesetzen von einst auf ganz neue Weise wiederaufleben lassen könnte.
»Ich habe mich enteignet gefühlt«, klagt die Unternehmensberaterin Nicole Grün, die in Wetzlar eine Wohnung an ein berufstätiges Paar vermietet hatte. Mehr als ein Jahr lang hätten die Mieter in der Wohnung ausgeharrt, ohne zu zahlen. Dass sie dann über Nacht weg waren, hatte sie nur gemerkt, weil ein Brief ihres Anwalts an das Paar mit Rückschein kam: verzogen. Die Wohnung, die man aufbrechen ließ, war voller Müll wie ein vom Massentourismus überfluteter Strand. In einem Zimmer waren die Wände übersät mit Hunderten von Tackerklammern.
Am härtesten treffen die Verluste durch Miettouristen kleine Vermieter, die sich eine Eigentumswohnung etwa zur Altersvorsorge gekauft haben. Wenn es dann zu Einnahmeverlusten und womöglich noch Gerichtskosten kommt, kann das an die Substanz gehen. Erst seit kurzem gibt es die Vermieterschutz-Datenbank Vpaz, in der aktenkundige Mieter registriert werden können, wenn sie dem bei Abschluss des Mietvertrags zustimmen (was natürlich wenige tun). Gerhard Ribbeck, der Mitbegründer dieser Liste, hofft auf ein großes Netzwerk, in dem man zukünftig potenzielle Nichtzahler abfangen kann.
Als im Fall des Herrn X die Räumungsklage der Wohnung bei Gericht aktenkundig wurde, tauchten plötzlich Untermieter auf. Eine Haushälterin, die hier angeblich auch wohnte, Kindermädchen, Eltern. »Für Untermieter muss jeweils ein neuer Titel auf Räumung beim Gericht beantragt werden«, erklärt die Rechtsanwältin Inka Witte. Und das verzögert das Verfahren. In einem anderen Fall konnte man mit detektivischen Mitteln nachweisen, dass die Türschilder der angeblich schon lange Zeit anwesenden Untermieter erst ein paar Tage zuvor angefertigt worden waren; man hatte die Druckerei ausfindig gemacht. Und so geht das Spiel immer weiter, wie beim Wettlauf zwischen Hase und Igel.
Herr X jedenfalls beherrschte dieses Spiel perfekt. Nachdem er viele zahlungsfreie Monate hatte ins Land ziehen lassen, fiel ihm ein, dem Rechtsanwalt Schultz ein strafrechtliches Verfahren anzuhängen: Er habe Herrn X körperlich bedroht. Wieder verging Zeit. Zuletzt beanspruchte der klagende Beklagte Räumungsschutz, da seine Frau suizidgefährdet sei. Immer neue Gutachter, immer mehr Zeit. Als Herr X schließlich trotz der zahlreichen eröffneten Nebenkriegsschauplätze doch rechtskräftig zur Räumung verurteilt wurde, begann er mit der Demontage seiner »Investitionen« in den nicht bezahlten Räumlichkeiten und zog sich mit einer eidesstattlichen Versicherung auf seinen leeren Geldbeutel vornehm zurück.
Natürlich gibt es auch kleinere Ganoven in dieser Verbrechenssparte. Da werden Anwaltsbriefe mit der selbst angefertigten Aufschrift »unbekannt verzogen« zurückgeschickt. Oder es werden gefälschte Bankbürgschaften vorgelegt. Kleine Fische, wie gesagt, im Vergleich mit dem ausgefuchsten Betrüger X, der eines Tages an einer Tankstelle nahe dem Wannsee seinem Mercedes der S-Klasse entstieg. Da gingen dem Rechtsanwalt Michael Schultz, der gegenüber zufällig auch tankte, doch sehr unjuristische Gedanken durch den Kopf. Kurz überlegte er sich, ob er seinen Wagen einfach quer vor den des Herrn X stellen und den Fahrer packen, ihn jedenfalls wie auch immer festhalten sollte und sagen: Jetzt zahlen Sie endlich! Nach all dem Wahnsinn! Doch Rechtsanwalt Schultz stieg in seinen Wagen und fuhr weiter. Denn der nächste Gerichtstermin stand ja schon fest.
© DIE ZEIT 22.01.2004 Nr.5 |