Venezuela bis in die 70er: Aus Lumpen zum Reichtum
Venezuela ist einer der ältesten Petro-Staaten der Welt. Die Ölförderung durch ausländische Konzerne begann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die hohe Abhängigkeit der staatlichen Einnahmen vom Ölsektor zeichnete sich im Laufe der 1930er Jahre ab. Folglich ist Öl nicht nur Teil der nationalen Identität der Venezolaner geworden; sie sehen es auch als ein zweischneidiges Schwert, das der Schlüssel zur Entwicklung oder zum Untergang des Landes ist.
Das ist auch die zentrale Botschaft von “Sowing the Oil”, eines Artikels des venezolanischen Intellektuellen Uslar Pietri von 1936. Ferner erklärte auch der venezolanische Politiker Pérez Alfonso, einer der Gründungsväter der OPEC, Öl zum Exkrement des Teufels, was der vom Öl geleiteten Entwicklungsstrategie während des Ölbooms der 1970er Jahre einen mehr als faden Beigeschmack gab.
Der schwerwiegende Einfluss der Ölindustrie auf die zukünftige Entwicklung des Landes entstand parallel zur Herausbildung des venezolanischen Zentralstaates. Während des gesamten Jahrhunderts, seit der Unabhängigkeitserklärung an Spanien bis zum Beginn der Ölindustrie, bewegte sich das Land unter der Herrschaft von regionalen Caudillos und schwachen Präsidenten/Diktatoren in stetiger Unruhe.
Diese Zustände machten Venezuela gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Am Ende des Jahrhunderts verlor das Land kampflos nahezu 160.000 Quadratkilometer (ein Gebiet größer als die Fläche von Griechenland) an das Britische Empire. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde es Opfer der Kanonenbootdiplomatie Englands, Deutschlands und Italiens.
In starkem Kontrast dazu steht, dass das Öl Venezuela half, nicht nur die Große Depression der 1930er Jahre zu überstehen, sondern bis 1936 sogar seine Auslandsschulden vollständig zurückzuzahlen. Mehr noch, das Land schaffte es, über einen Zeitraum von über 50 Jahren bis in die 1970er Jahre hinein, ein hohes Pro-Kopf-Wachstum aufrechtzuerhalten und Importe durch den Aufbau einer einfachen (Konsumgüter) und harten (Stahl, Petrochemikalien, Autos etc.) Industrie zu substituieren. Und all dies mit einer der niedrigsten Inflationsraten der Region. In dieser Zeit baute Venezuela auch mit dem „Guri“ das bis in die frühen 80er Jahre hinein größte Wasserkraftwerk der Welt, das fast das ganze Land und Teile Brasiliens mit Energie versorgt.
Venezuela war auch eines der ersten Länder der Region, das ein allgemeines Wahlrecht einführte (1947) ‒ nur ein Jahr nach Frankreich. Nach einer diktatorischen Zwischenzeit wurde seit 1958 ein stabiles demokratisches System etabliert, während zur gleichen Zeit sowohl Lateinamerika als auch in Portugal und Spanien ‒ die ehemaligen Kolonialmächte in der Region ‒ von Diktaturen in Geiselhaft genommen wurden. Ebenso gelang es in den 1960er Jahren die ernsthafte Bedrohung durch eine linke Guerilla über deren Integration in das demokratische System einzuhegen. |