Das Rückspiel gegen Joschka Fischer beginnt
Ab morgen wird in Köln der zweite Visa-Prozess verhandelt. Staatsanwalt Bülles ist fest entschlossen, die Verantwortlichkeit der Behörden für den Missbrauch klarzustellen.
CHRISTOPH HARDT, KÖLN; HANDELSBLATT, 12.05.2005
Es hat geregnet am Morgen des 24. Juni 2002 in Weinsberg, dem Weinstädtchen nahe Heilbronn. In den Wingerten hängen noch Wolkenfetzen, als die Autos aus Köln vor dem Büro des Geschäftsmanns Heinz Martin Kübler vorfahren. Geschäftlich ist Kübler auf der Höhe in diesen Tagen, die Allianz-Vertretung läuft seit 20 Jahren mehr oder weniger erfolgreich, er baut und vertreibt Immobilien und verkauft unter der Hand Mercedes-Limousinen. Auch sein neuester Geschäftszweig macht ihm Freude: Reiseschutzpässe.
Plötzlich klingelt es. Danach wird im Leben und Arbeiten des Heinz Martin Kübler nichts mehr so sein wie zuvor. Denn vor der Tür stehen Beamte des „EK Reisepass“, einer Sonderkommission des Bundesgrenzschutzes aus Köln.
In Gang gekommen ist das alles an einem schönen Frühlingstag am Rhein, dem 30. April 2002. In seinem schlichten Büro im Kölner Justizzentrum legt Egbert Bülles den Ordner mit dem Aktenzeichen 100 JS 7/02 an. Seit einem Jahr schon hat der Kölner Oberstaatsanwalt, Leiter einer von zwei Abteilungen gegen organisierte Kriminalität, gegen eine aus der Ukraine stammende Bande von Schleusern ermittelt. Dabei ist er auch auf den Geschäftsmann Kübler gestoßen, dessen neuer Geschäftszweig – Reiseschutzpässe – sich bei den Schleusern besonderer Beliebtheit erfreut. Was Bülles zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: Küblers Geschäft läuft mit Billigung, ja Unterstützung der Bundesregierung, die Kölner Ermittlungen münden in den Schleuserskandal, den Visa-Untersuchungsausschuss des Bundestags.
Mag in Berlin nach dem TV-Auftritt von Joschka Fischer auch ein Spannungstief eingetreten sein in der Visa-Affäre, in Köln beginnt am morgigen Freitag vor dem Landgericht ein neues Kapitel. Denn dort treffen der Erfinder der Reiseschutzpässe und der Mann, der den Schleuserskandal ins Rollen brachte, vor Gericht aufeinander; Heinz Martin Kübler als Mitangeklagter des bereits wegen Schleuserei verurteilten Deutsch-Ukrainers Anatolij Barg und Egbert Bülles als Chefankläger. Der hat davon gesprochen, jetzt beginne sein „Rückspiel“. Und damit hat er wohl auch Joschka Fischer gemeint.
Der Angeklagte Kübler ist einer, den sie in Schwaben „Fixle“ nennen, ein cleverer Zeitgenosse, aber einer, der manchmal übers Ziel hinausschießt. Kübler trägt gerne kräftig gefärbte Krawatten unter dem dunklen Anzug, die Brille ist blau getönt, er gelt sich das Haar und fährt einen S-Klasse-Mercedes. Das Geschäft mit Reisekrankenversicherungen, die Kübler weiter auf eigene Rechnung verkauft, läuft vollautomatisiert online per Computer. Das ist Küblers Spezialität, so war das auch bei den Reiseschutzpässen. „Während wir uns hier unterhalten, habe ich 82 Policen verkauft“, sagt er. Die Kunden sitzen heute in Eritrea, Ägypten oder China.
Ob er nie daran gedacht hat, mit seinen Dokumenten Schleusungen zu fördern? „Dass die Visumvergabe nicht ordentlich geprüft wurde, das habe ich nie erwartet“, sagt der 42 Jahre alte Landwirtssohn. Dann erzählt er seine Version des Skandals.
In einer Kirche in Leipzig, die er immer besuche, wenn er an neuen Geschäftsideen bastle, sei ihm im Jahr 2000 der Gedanke gekommen. „Was der ADAC kann, das kannst du auch, aber besser.“ Kübler führt Besucher gern zu einem Feld östlich von Weinsberg. Darauf stehen gut zwei Dutzend beige gestrichene Baracken – das Übergangslager Weinsberg. Hier will Kübler mit den Visa-Problemen der Osteuropäer erstmals konfrontiert worden sein. So sei er auch auf das „Carnet de Touriste“ gestoßen, jene Reisekranken- und Abschiebekosten-Versicherung, die der ADAC bereits seit 1995 mit Erlaubnis des Auswärtigen Amts vor allem in Osteuropa über seine Partnerclubs verkauft. Seit Oktober 1999 erkennt das Auswärtige Amt das Carnet auch als ausreichenden Nachweis für die Rückkehrwilligkeit von Touristen an. Seither ist das Dokument ein Renner. Jedenfalls so lange, bis Kübler erscheint.
Im März 2000 tritt der Fischer-Volmer-Erlass („Im Zweifel für die Reisefreiheit“) in Kraft. Jetzt braucht man noch eine wie auch immer geartete Einladung, und das Visum ist ganz nahe. Die Zahl der Visa-Anträge in der Ukraine steigt sprunghaft an. Kübler erzählt, vom Erlass keine Ahnung gehabt zu haben. Zunächst habe er im August 2000 mit einem „Dr. Bolongino“ im Innenministerium verhandelt. Hier habe man ihm klar gemacht, dass er als Immobilien-Makler unmöglich Reiseschutzpässe verkaufen könne. Also gründet Kübler mit einem Einlagekapital von 500 000 D-Mark seine „Reiseschutz AG“.
Im März 2001 spricht Kübler zum zweiten Mal in Berlin vor, diesmal im Außenministerium. Dort hätte man „fast euphorisch“ auf seine Idee reagiert, sagt Kübler: ein passähnliches Versicherungsdokument, deutlich günstiger als das Angebot des ADAC. Zu dieser Zeit stauen sich die Ausreisenden vor den Botschaften, bereits im Mai 2001 stellt das Auswärtige Amt Küblers Produkt den ADAC-Versicherungen gleich, Küblers große Zeit beginnt. Nicht nur die Anklagebehörde wird sich später fragen, wie ein unbekannter Geschäftsmann aus der schwäbischen Provinz mit zweifelhaften Kontakten nach Osteuropa in einer so delikaten Angelegenheit offenbar ungeprüft derart groß mit den Behörden ins Geschäft kommen konnte. Die Anklageschrift spricht hier von „Korruptionsverdacht“, die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei hohe Beamte des Innen- und des Außenministeriums, die mit dem Weinsberger Kaufmann regen Austausch pflegten. Küblers Verteidigung hält die Korruptionsvorwürfe für unbegründet.
Genau 171 929 Schutzpässe lässt der Weinsberger bei der Bundesdruckerei in Berlin produzieren, die stellt dafür 234 000 Euro in Rechnung. Wenig später meldet sich der inzwischen verurteilte Deutsch-Ukrainer Anatolij Barg bei ihm. Barg ist seit 1992 in Deutschland, lebt mit seiner Familie von Sozialhilfe und hat die halbe Sippe ins Schleusergeschäft eingespannt. Zunächst konzentriert sich Barg darauf, Einladungen für Besuchs-Reisen nach Deutschland zu fälschen. So spricht er unter anderem auch einen Angler am Rheinufer an: Der stellt ihm die fingierten Einladungen aus und bekommt dafür Zigaretten. Dem Angler hat das eine zweijährige Haftstrafe eingebrockt.
Barg zieht mit den gefälschten Einladungen und fingierten Reisebüro-Arrangements in Kiew ein reges Geschäft auf. Dann, so heißt es in der Anklage, macht das Auswärtige Amt auf Küblers Reiseschutzpässe aufmerksam. Insgesamt wird der Deutsch-Ukrainer 7 200 Reiseschutzpässe kaufen, fast alle in der Billigversion à 50 Euro für eine Reisedauer von nur 15 Tagen.
Kübler selbst berichtet, das Geschäft à la Barg sei eher die Ausnahme gewesen. Er habe sehr viel mehr mit seinen „Partneragenturen“ im Ausland zu tun gehabt. „Das war Massengeschäft“. Seinen Partnern in der Ukraine und anderswo schickt er die Pässe unausgefüllt und stapelweise, dafür bekommen die Partner Zugang zu Küblers Online-System. Kübler erzählt, er habe mit 350 Agenturen im Ausland zusammengearbeitet. Wie die grünen Reiseschutzpässe, deren Papier an die alten deutschen Reisepässe erinnert, zu Hunderten unausgefüllt in den Schlangen vor der Deutschen Botschaft in Kiew landen konnten, will er sich nicht erklären können. Außerdem hätten nicht nur die Agenturen Zugang zu seinem PC-System gehabt. „Auch das BKA hatte Zugriff.“
Im Februar 2002 gerät die Situation vor der Botschaft in Kiew fast außer Kontrolle, zu Hunderten kommen die Menschen mit Küblers Reiseschutzpässen. Kübler reist nach Kiew, bespricht sich mit der Leiterin der Visa-Stelle Hoppmann und wird danach sogar zu einer Art verlängertem Arm des Außenministeriums: Kübler willigt ein, nur noch 200 Schutzpässe täglich zu verkaufen. Die entsprechenden Daten faxt er danach an die Visa-Stelle der Botschaft weiter. Als die Polizeibeamten aus Köln im Juni vor seiner Tür stehen, glaubt Kübler daher, im falschen Film zu sein: „Ich habe doch nur Versicherungen verkauft.“
Staatsanwalt Bülles würde in diesem Moment mit typisch rheinischer Ironie wohl sagen: „Mir kommen die Tränen.“ Seine Version der Kölner Schleuseraffäre ist eine völlige andere Geschichte. Sie handelt von einem gewieften, aber unseriösen Geschäftemacher aus Schwaben, der mit Behörden-Hilfe Beihilfe zur Schleusung Tausender in die Schengen-Staaten leistet.
Den harten Ermittler hört man dem 58 Jahre alten Bonner nicht an. Er wirkt immer so gemütlich, Bülles – das ist SK Kölsch live. Er hat in Bonn Rechtswissenschaften studiert und ist dort Alter Herr bei einer katholischen Studentenverbindung. Er geht mit seinen beiden Söhnen regelmäßig zum 1. FC Köln in die Südkurve und trinkt, wie es heißt, mit befreundeten Polizisten auch gerne mal ein Kölsch. Er nimmt es aber auch mit den Pflichten eines Staatsdieners sehr genau.
Spätestens seit seinem Auftritt, als er vor dem Untersuchungsausschuss die Mitverantwortung der Regierung noch einmal bekräftigte und anschließend feststellte, er könne sich vorstellen, auch Joschka Fischer anzuklagen, ist Bülles so eine Art öffentliche Figur. Für die Grünen ist er seither verbrannt: Bülles habe „in seiner rheinisch übersprudelnden Art“ unsinnige Aussagen gemacht und zu einer Skandalisierung des Problems beigetragen.
Doch wird man dem Zwei-Zentner-Mann nicht nachsagen können, er suche die Öffentlichkeit gezielt. In Kreisen des Landgerichts heißt es, Bülles habe im ersten Schleuserprozess zunächst auf ein schnelles Ende gedrängt. Dann erst habe der Ermittler Lunte gerochen. Denn die Verteidigung des Angeklagten Barg habe als Erstes auf die Mitverantwortung der deutschen Regierung am Visa-Missbrauch abgehoben. Mit Verweis auf die Mitschuld der Behörden bekam Barg voriges Jahr ein vergleichsweise mildes Urteil von fünf Jahren Haft, das Ausländergesetz sieht ein Höchststrafmaß von bis zu zehn Jahren vor.
Jetzt stehen Barg und mit ihm Kübler wegen weiterer 700 Fälle von Schleusung beziehungsweise Beihilfe dazu vor Gericht – Bülles’ „Rückspiel“ beginnt. Der Ankläger sei entschlossen, die Verantwortlichkeit der Behörden für den Missbrauch klarzustellen, heißt es aus Kreisen des Landgerichts. Bülles hat jedenfalls dafür gekämpft, dass das Verfahren überhaupt eröffnet wird. Ursprünglich hatte das Kölner Landgericht das zweite Strafverfahren gegen den Schleuser Barg gar nicht verhandeln wollen, dieser ist ja bereits verurteilt. Der Prozess gegen Kübler sollte gar nach Heilbronn abgegeben werden. Doch Bülles legte Beschwerde ein, das Oberlandesgericht Köln gab ihm Recht.
Der Prozess ist bis Mitte Juli terminiert. Es könne aber auch ein Jahr dauern, heißt es in Kreisen der Staatsanwaltschaft. Denn in Köln gingen immer neue Hinweise auf die Verstrickungen der Berliner Behörden in die Affäre ein.
MfG kiiwii
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