Wie Susanne Klatten mit Karbon auf Risiko spielt
Fast unbemerkt hat die Quandt-Erbin eine aufsehenerregende Wette auf die Zukunft abgeschlossen: Sie hat sich an einer Reihe von Firmen beteiligt, die mit Hilfe des Leichtwerkstoffs Karbon die Industrie revolutionieren sollen. Den Anfang macht der Autobauer BMW.
MÜNCHEN, FRANKFURT. Susanne Klatten weiß, was sie ihren verwöhnten Gästen, den Professoren und Geldgebern, zu bieten hat.
Ein kalter Märzabend, Jahresempfang des Gründerzentrums München, 500 geladene Gäste in Abendkleidung. Videoinstallationen und Schaumwein umspielen die Sinne, festlich ist die Bühne geschmückt. Es ist ein Termin, um Kontakte anzubahnen und, vor allem, einen der sehr seltenen öffentlichen Auftritte der Gastgeberin zu erleben.
Susanne Klatten, Multimilliardärin, eine der reichsten Frauen Deutschlands und Aufsichtsratschefin des Gründerzentrums, bereitet eines der spannendsten Experimente der deutschen Wirtschaft vor. Glückt ihr Versuch, eröffnet sich dem Land eine große Zukunftschance. Scheitert es, dann verlieren Klatten und vielleicht auch wichtige Unternehmen viel Geld.
Es ist totenstill im Saal, als Klatten ihre Bühne betritt. "Ich wünsche mir Mut zum Unternehmertum", sagt sie. Ideen habe Deutschland genug. Es gehe darum, Unternehmertum in eine "sichtbare volkswirtschaftliche Relevanz" umzumünzen.
Sie selbst will mutig vorangehen.
Fast unbemerkt hat sie in den vergangenen Jahren ein Beteiligungsgeflecht aufgebaut, dessen strategische Bedeutung nun so langsam sichtbar wird.
Sie hält die Mehrheit an dem Chemiekonzern Altana, sie dominiert gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Stefan den Autohersteller BMW. Sie hält knapp 22 Prozent an dem Windanlagenbauer Nordex und den gleichen Anteil an dem Chemiekonzern SGL Carbon.
Ein Teil ihrer milliardenschweren Investments hat sie im hessischen Bad Homburg zusammengeführt. Dort sitzt die Beteiligungsgesellschaft Skion. Und die interessiert sich laut Eigendarstellung für "Beteiligungen an Zukunftstechnologien mit dem Schwerpunkt Deutschland".
Es ist ein sehr feines Band, das diese Beteiligungen wie ein roter Faden miteinander verbinden soll: Kohlefaser, hergestellt von SGL Carbon. Die ehemalige Tochter des Chemieriesen Hoechst soll den Wunderwerkstoff produzieren, mit dem Klatten die deutsche Industrie grundlegend revolutionieren will.
Geht ihr Plan auf, dann kontrolliert sie in wenigen Jahren ein einzigartiges industrielles Cluster in Deutschland. Mittendrin: der Autobauer BMW und die SGL Carbon.
Schon jetzt werden zum Beispiel Rennräder, Tennisschläger oder Formel-1-Rennwagen aus der leichten Kohlefaser gebaut. Doch nun geht es um die Verwendung für die Zukunft der großen Industrien.
Es winkt das große Geld. Die Welt versucht, das Weltklima zu schonen, die Autobauer, Flugzeughersteller und die Windkraftanlagenbauer überlegen, wie sie umweltschonendere Autos fertigen und sauberere Energie erzeugen können. Dafür müssen sie Gewicht einsparen.
Rassige Autos statt lahmer Elektrokutschen, das ist die Vision
Karbon ist härter als Stahl und halb so schwer wie Aluminium. Karbon, glaubt Klatten, ist die Lösung. Aus Karbon werden die Flugzeuge, Autokarossen und Windräder des neuen Jahrzehnts gebaut werden.
BMW-Chef Norbert Reithofer glaubt das auch. Seit Jahren wirbt er für das Projekt "Megacity Vehicle", das ultraleichte Elektroauto. Der Ingenieur weiß: Nur mit neuen Werkstoffen, die Stahl und Aluminium ersetzen, lässt sich das Gewicht der schweren Lithium-Batterien im Auto kompensieren. Wer den Leichtbau mit Karbonfasern beherrscht, kann statt lahmer Elektrokutschen rassige Sportwagen bauen. BMW will da schneller sein als die Konkurrenten Daimler und Audi.
Die große Frage der Zunft ist, wie es gelingen kann, möglichst schnell in großen Serien zu produzieren. Beobachter erwarten, dass BMW heute auf seiner Bilanzpressekonferenz genauer erklärt, wie das gehen soll. Die Fertigung der Elektroflitzer im Leipziger Werk ist schon seit Anfang dieses Jahres beschlossen. Sie soll schnellstmöglich beginnen, vielleicht schon 2013.
Reithofers Aufsichtsrätin Susanne Klatten ist von Anfang an von dem neuen Werkstoff überzeugt. Sie hat nicht viel Zeit verloren.
Anfang 2008 liegt ihr eine Anfrage vor, ob sie bei SGL Carbon als Großaktionärin einsteigen wolle. SGL-Chef Robert Koehler braucht damals Geld für die Kohlefaserproduktion, außerdem fürchtet er eine feindliche Übernahme. Klatten reagiert, Skion steigt ein. Erst mit sechs, dann mit über 20 Prozent. Ende Oktober 2009 gründen BMW und SGL ein Joint Venture, das Karbonfasern für den Autobau entwickeln soll.
Eine klassische "Win-Win-Situation", jubelt BMW-Chef Reithofer hinterher. "Wir sichern uns wegweisende Zukunftstechnologien und Rohstoffe zu wettbewerbsfähigen Konditionen." Partner Koehler ist ähnlich euphorisch: "Dieses Joint Venture ist ein Meilenstein für den Einsatz von Karbonfasern im industriellen Maßstab in der Automobilindustrie. In fünf bis zehn Jahren haben wir Karbonteile in der Serienfertigung für Autos."
Allerdings wissen beide, dass ihr Projekt vor allem eines ist: eine ungeheure Wette auf die Zukunft.
Denn noch steht die Forschung am Anfang, Erfahrung sammelt die Industrie erst seit den 70er-Jahren, mit Tennisschlägern und Komponenten für Flugzeuge. Was den Autobau betrifft, so weiß man: Karbon ist zwar extrem hart und leicht, splittert aber leicht bei Unfällen. Als Baustoff für die Crashzonen ist das Material also ungeeignet. Als Ersatz für schweren Stahl oder Aluminium kommt es nur für tragende Teile einer Karosserie infrage.
Das mahnende Beispiel: Boeings Fiasko, noch nicht lange her
Das eigentliche Risiko aber ist: Niemand weiß, ob Karbon für die Massenfertigung taugt. Die Karossen für die Formel1 zum Beispiel werden bisher in Handarbeit gefertigt.
"BMW und SGL wagen den Versuch, Karbonmanufakturen in die Großserie zu überführen. Das ist bislang beispiellos", sagt auch Engelbert Wimmer von der PA Consulting Group. "BMW hat die Chance, sich so von den Wettbewerbern Audi und Mercedes abzusetzen", glaubt Wimmer. "Das ist ein Vorhaben von großer unternehmerischer Weitsicht, aber nicht ohne Risiko."
"Die Herstellungskosten sind extrem hoch, die Verarbeitung der Fasern ist sehr aufwendig", warnt Christoph Stürmer, Analyst der international angesehenen Beratungsagentur IHS Global Insight. "Falls es aber gelingt, Karbonkomponenten im großen Maßstab herzustellen und die Kosten deutlich zu drücken, hat BMW eindeutig einen Wettbewerbsvorteil."
Susanne Klatten und BMW haben sich offenbar entschieden, vor allem die Vorteile zu sehen.
Nach Ostern soll an der US-Westküste der Bau eines Faserwerks beginnen. Ein Wasserkraftwerk soll die gewaltigen Mengen Energie liefern, die für die Herstellung der Karbonfaser nötig sind. Im bayerischen Wackersdorf will BMW die Fäden dann zu Matten flechten, in Harze und Kunststoffe einbinden. Dort stehen spezielle Öfen, in denen der Kohlenstoff unter hohem Druck und bei Temperaturen von bis zu 3000 Grad gebacken wird.
All die Komponenten sollen nach Leipzig geliefert werden, wo Reithofer so rasch wie möglich mit der Produktion des Megacity-Vehicles beginnen möchte.
Vielleicht wird 2010 das Jahr eines Werkstoffs, der den Autobau revolutioniert. Vielleicht wird BMW einmal mit Grausen an eine schöne, aber teure Idee zurückdenken.
So ist es 2005 den Flugzeugbauern ergangen. Boeing und Airbus kündigten damals an, für ihre neuen Flieger im großen Stil Karbon zu verwenden. Sie wollten ihre Maschinen leichter machen und so Sprit sparen. Doch die Karbonteile, in aller Welt von Dutzenden Zulieferern gefertigt, passten in der Endmontage nicht zusammen. Und das steife Material lässt sich nur noch sehr schwer bearbeiten, wenn es einmal gebacken ist. Anders als Stahl oder Aluminium. Das Ende war, dass Boeings Traumflieger, der aus Karbon gefertigte "Dreamliner", zum Alptraum für den Konzern wurde: Milliardenverluste, eine um mindestens zwei Jahre verzögerte Auslieferung.
Auch die Karbon-Hersteller haben nach dem Desaster schwer gelitten. Sie konnten die erhofften Mengen nicht verkaufen, ihre Werke waren und sind nicht ausgelastet, die Preise für Karbon sackten im vergangenen Jahr ab. SGL Carbon etwa musste im Dezember 2009 eine Wertberichtigung in zweistelliger Millionenhöhe vornehmen. Eine schnelle Erholung ist nicht in Sicht. Auch deshalb braucht Koehler das BMW-Projekt.
Beide Seiten sind sehr vorsichtig. Details geben sie nur in kleinen Dosen bekannt. Die Konkurrenz erwartet mit Spannung, Einzelheiten über das neue Werk in den USA zu erfahren. Denn schon an der Kapazität der Fabrik können sie ablesen, welche Komponenten neuer BMW-Modelle aus Kohlenstoff sein werden.
BMW aber ist nur ein Teil von Klattens Millionen-Wette. Geht ein neues BMW-Modell in Serie, kann SGL Carbon die auf dem Markt zu einer wichtigen Größe werden und die bislang führenden Japaner angreifen. Denn die Kapazitäten würden sich auf einen Schlag um einige Tausend Tonnen erhöhen, die weltweite Produktionsleistung leicht um zehn oder mehr Prozent steigen. Das wiederum würde Chancen auch auf anderen Feldern eröffnen.
SGL sei auch für andere Kooperationspartner als BMW offen, heißt es aus dem Umfeld des Unternehmens. Der Autokonkurrenz ist der Zugang versperrt. Die Ergebnisse aus dem Joint Venture mit BMW bleiben vorerst geschützt. Das gilt aber nicht für andere Branchen. Klatten habe zugesichert, ihren Anteil bei SGL Carbon nicht über 25 Prozent auszubauen. Sie sitze zwar im Aufsichtsrat, das Tagesgeschäft überlasse sie aber Koehler.
Das eröffnet zum Beispiel alle Möglichkeiten, mit Windanlagenbauern zusammenzuarbeiten. An Nordex etwa hält die Klatten-Beteiligungsgesellschaft inzwischen auch 22 Prozent. Der Konzern will Windanlagen auf offener See bauen. Ohne Karbon-Verbundstoffe geht nichts, meinen Experten. Die Flügelblätter aus Metall oder Glasfaser halten die höheren Belastungen durch rauen Wind und Salzluft auf hoher See nicht aus. Rotoren aus Karbon könnten sich auch hier zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil entwickeln. Bislang beliefert die SGL noch den Nordex-Konkurrenten Repower. Doch das könnte sich bald ändern. Susanne Klatten will nicht einfach das Erbe ihres Vaters verwalten. Sie hat etwas Großes vor. "Deutschland bleibt das Land der Ideen. Es fehlt aber oft an Zielgenauigkeit, Tempo und Schlagkraft." So sagt sie es in München.
Das will sie jetzt ändern. Sie hat dünne Fäden in die Hand genommen und begonnen, sie zu spinnen.
Markus Fasse, Martin Murphy
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Quelle: HANDELSBLATT |