Einbinden, nicht aufnehmen
Es wird Zeit, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs, wenn sie sich heute abermals in Kopenhagen dem türkischen Thema zuwenden, sich über ihre strategischen Interessen klaren Wein einschenken
Von Helmut Schmidt
Kaum einer der heutigen Europäer hat jemals in seiner Schule oder Kirche oder Synagoge gelernt, dass vor einem Jahrtausend die islamische Wissenschaft derjenigen der Europäer weit überlegen gewesen ist - dass zum Beispiel sie es war, die uns große Teile unseres Wissens von den Schriften der klassischen Griechen vermittelt hat; kaum einer weiß überhaupt etwas von der Geschichte und vom Inhalt des Islam, nicht einmal die gemeinsamen Wurzeln in Abraham oder Moses sind uns bewusst. Wohl aber sind die meisten Europäer seit dem Mittelalter - dank der Kirche und den Kreuzzügen - in feindlicher Abneigung gegenüber dem Islam aufgewachsen. Und umgekehrt: Auch von islamischer Seite ist die Mahnung zu religiöser Toleranz eine ganz große Seltenheit.
Im Islam fehlen die für die europäische Kultur entscheidenden Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität. Der Islam hat auch deshalb - trotz 500 Jahren osmanischer Expansion - in Europa nicht Fuß fassen können; Albanien, Bosnien und das Kosovo sind Ausnahmen geblieben, dazu die Stadt Istanbul. Jedoch leben seit einigen Jahrzehnten in Europa viele Muslime - in Frankreich und Deutschland jeweils drei, in England anderthalb Millionen. Aber Integration, gar Assimilation ist bisher nirgendwo durchgreifend geglückt. Der Einwanderungsdruck wird sich im Laufe des 21. Jahrhunderts erheblich verstärken - besonders aus der Türkei, aus dem Nahen Osten und aus dem Maghreb. Deshalb haben wir Europäer ein ernstes Interesse an der Stabilität unserer muslimischen Nachbarstaaten in Asien und Afrika.
Erster Antrag: 1987
Es sollte diesem Interesse dienen, dass die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1963 ein Assoziationsabkommen mit der Türkei geschlossen hat. Daneben hat die Entwicklungshilfe europäischer Staaten zugunsten fast aller muslimischen Staaten - und ebenso die wirtschaftliche Verflechtung - inzwischen gewaltige Fortschritte gemacht. Zugleich ist aber wegen der dortigen Bevölkerungsexplosion ihr Wohlstand nur langsam angestiegen. 1963 lebten in der Türkei weniger als 40 Millionen Menschen, im Jahre 2003 werden es knapp 70 Millionen sein; in der Mitte des 21. Jahrhunderts könnte die Türkei so viele Einwohner haben wie Frankreich und Deutschland zusammen.
In den siebziger Jahren hat man in Ankara vergeblich gehofft, dass Millionen mehr Türken in Deutschland leben könnten. 1987 hat die anhaltende Bevölkerungsvermehrung zu einem türkischen Antrag auf Vollmitgliedschaft geführt. Inzwischen war aus der früheren EWG von sechs Mitgliedsländern längst ein politischer Verbund geworden; man erstrebte eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und bereitete sich auf die gemeinsame Währung vor. Der Beitrittsantrag wurde damals als „derzeit nicht zweckmäßig“ abgelehnt. Wohl aber hat es in den neunziger Jahren und seither im Europäischen Rat mehrere Beschlüsse gegeben, die eine Beitrittskandidatur in Aussicht stellten, zugleich aber auf den von der EU schon vor einem Jahrzehnt aufgestellten politischen, ökonomischen und vor allem verfassungsrechtlichen Bedingungen (den Kopenhagener Kriterien) beharrten, welche die Türkei bisher nicht erfüllen konnte.
Giscard d’Estaing hat also Recht, der jüngst sagte, man habe sich gegenüber der Türkei einer zweideutigen Sprache bedient. Die Mehrheit der EU-Regierungschefs hat sich immer aufs Neue hinter den von der Türkei tatsächlich nicht erfüllten Kriterien versteckt, zugleich aber unter massivem Druck der USA immer wieder so getan, als ob man die Türkei nur allzu gern als Vollmitglied in die EU aufnehmen wolle. Deutschland und Frankreich waren und bleiben daran durchaus beteiligt.
Es wird Zeit, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs, wenn sie sich am Donnerstag abermals in Kopenhagen der Türkei zuwenden, sich über ihre strategischen Interessen reinnen Wein einschenken. Zwar sitzt der amerikanische Hegemon nicht mit am Tisch, aber vermutlich wird zumindest Tony Blair dessen Interessen vertreten. Für Washington geht es seit Jahrzehnten um die feste Einbindung der Türkei in das amerikanische geopolitische Instrumentarium; aktuell geht es darum, die Türkei zu weitgehender Mitwirkung an einem Irak-Krieg zu bewegen und langfristig auch um möglichst weitgehende Identität der Mitgliedschaften in EU und Nato, um die Steuerung beider Verbände durch Washington wesentlich zu vereinfachen.
Umringt von Rivalen
Dabei bleibt die vorhersehbare eigene strategische Dynamik der Türkei außer Acht; diese betrifft keineswegs allein den Irak oder allein den israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern ebenso jene Republiken Zentralasiens, die türkische Dialekte sprechen. Schon vor Jahrzehnten sprach Staatspräsident Süleyman Demirel von einer „türkischen Welt“, „von der Adria bis an die Grenzen Chinas“.
Die Türkei hat nicht nur kurze gemeinsame Grenzen mit Griechenland und Bulgarien, sondern auch längere Grenzen mit dem Irak, mit Syrien, dem Iran, Georgien und Armenien. Außerdem ist die Türkei, gemeinsam mit dem Irak, belastet mit dem Problem des unterdrückten 20-Millionen-Volkes der Kurden, denen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges kein eigenes Territorium zugestanden hatten; jede Destabilisierung des Irak wird den Nationalismus der in der Türkei lebenden Hälfte des kurdischen Volkes abermals anstacheln.
Die sich durch die Jahrhunderte hinziehende Gegnerschaft Russlands (deshalb seinerzeit der Beitritt der Türkei zur Nato), die verständliche Feindschaft der Armenier oder die zu erwartenden strategischen Auseinandersetzungen über Rohrleitungen und Häfen für Öl und Gas aus Zentralasien komplettieren die Umrisse der geopolitischen Interessen Ankaras. Wer diese Interessen in den Rahmen einer „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU einfügen wollte, der könnte in einer Krise den Zusammenbruch der EU riskieren. Für einen vollen EU-Beitritt der Türkei sind eine Reihe kultureller Unterschiede von Bedeutung. Die Türkei ist, dank der Reformen durch den General Kemal Atatürk nach dem Ersten Weltkrieg, ein laizistischer Staat: Der Feudalismus ist abgeschafft; anders als im Iran gibt es eine klare Trennung zwischen Staat und Geistlichkeit; anders als im Irak und in Syrien gibt es eine funktionierende demokratisch-parlamentarische Verfassung. Jedoch liegt verfassungsrechtlich die entscheidende Macht beim Militär, im türkischen Sicherheitsrat, in dem nichts gegen die Generalität entschieden werden kann. Die militärischen Spitzen wachen über die kemalistischen Reformen, sie stehen gegen die schleichende Re-Islamisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens. Die oberste Regierungsfunktion der Militärs verschafft laizistischen Türken eine gewisse Sicherheit, ironischerweise beschränkt sie aber entscheidend die Demokratie und verstößt so gegen die Kriterien der EU.
Washington setzt auf die Standfestigkeit des Militärs. Umgekehrt hofft die heute in der Türkei regierende islamistische Partei, mithilfe der EU das Militär zurückdrängen zu können. Die von Chirac und Schröder vorgetragenen Fristsetzungen könnten bereits vor dem Jahre 2005 eine dramatische Auseinandersetzung auslösen. Jedenfalls ist der Ausgang des Streites zwischen dem heutigen Re-Islamisierungsprozess und dem von der EU verlangten Demokratisierungsprozess ungewiss. Fundamentalismus ist denkbar geworden.
Was sind Deutschlands Interessen? Zum Ersten sind wir dringend am Wohlergehen und an der Stabilität des türkischen Nachbarn interessiert. Deshalb habe ich zum Beispiel in den siebziger Jahren als Regierungschef eine internationale Finanzhilfe zugunsten Ankaras initiiert. Deshalb sollten wir heute eine Wiederbelebung und Ausweitung des Assoziationsabkommens mit der EU und eine weit reichende wirtschaftliche Kooperation betreiben; denn der türkische Lebensstandard pro Kopf liegt bei nur einem Fünftel des EU-Durchschnitts.
Zum anderen gibt es zwingende Gründe, eine Vollmitgliedschaft in der EU zu vermeiden. Sie würde Freizügigkeit für alle türkischen Staatsbürger bedeuten und damit die dringend gebotene Integration der bei uns lebenden Türken und Kurden aussichtslos werden lassen. Sie würde zugleich die Tür öffnen für eine ähnlich plausible Vollmitgliedschaft etwa anderer muslimischer Staaten in Afrika und Nahost. Sie würde eine außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU unmöglich machen.
Im wahrscheinlichen Ergebnis würde die politische Union zu einer Freihandelszone verkümmern. Zwar hätten viele Engländer und Amerikaner gegen ein solches Ergebnis nichts einzuwenden. Die Deutschen aber und ebenso die Franzosen müssen wissen: Es liegt in unserem vitalen nationalen Interesse, die Selbstbehauptung der Europäischen Union zu erreichen; denn als einzelne Staaten werden wir den politischen und demografischen, den ökonomischen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht standhalten können.
Die 15 europäischen Regierungschefs, die sich heute in Kopenhagen, unter abermals massivem amerikanischen Druck, an die Adresse der Türkei äußern werden, müssen daran erinnert werden, dass es seit 1963 eine einzige rechtliche Verpflichtung für sie gibt, nämlich unter bestimmten Voraussetzungen „… die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft zu prüfen“. Leider ist zu erwarten, dass der Europäische Rat sich gegenüber der Türkei abermals zweideutig verhalten wird. Dagegen ist es aber an der Zeit, den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen ernsthaft zu betreiben.
(c) DIE ZEIT 50/2002
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