Ich bin ein großer Anhänger des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips sowie des Realisationsprinzips...
Dass die IFRS ausgerechnet bei dem am schlechtesten greifbaren immateriellen Vermögenswert namens Firmenwert einen "impairment only Ansatz" vorsehen und regelmäßige FiWe-Abschreibungen über die "betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer" verbieten, eröffnet den Geschäftsleitern börsennotierter Konzerne enorme Ermessensspielräume zur "Ergebnisverschönerung" bis hin zur strafrechtlich relevanten Bilanzmanipulation. Der Übergang ist fließend...
Inwiefern diese Bilanzierungsnorm dem übergeordneten Ziel der IFRS - der Vermittlung entscheidungsrelevanter Informationen - dient, ist mir bis heute nicht begreiflich geworden.
Insofern halte ich eine grundlegende Skepsis gegenüber Bilanzansätzen immaterieller Vermögenswerte, insbesondere aber gegenüber Geschäfts- oder Firmenwerten für durchaus angebracht, zeigt sich doch in wirtschaftlichen Krisen immer wieder, wie flüchtig solche Werte sind...
Im Geschäftsbericht des Krisenjahrs 2020 wurde die einem Firmenwert von mehr als 600 Mio € inhärente Ertragskraft in keinster Weise sichtbar...
Im Fall der HFS ist die Skepsis umso angebrachter, als der Firmenwert nicht durch einen Unternehmenskauf zwischen fremden Dritten sondern durch eine Sacheinlage der damaligen Hauptanteilseigner "Familie Ketterer" begründet wurde...
Der enorme Kursverfall der letzten 18 Monate legt nahe, dass viele Marktteilnehmer von einer gezielten Überbewertung der Sacheinlage zulasten der Kleinaktionäre ausgehen und mithin der Corestate einen deutlich niedrigeren Unternehmenswert zubilligen.
Insofern ist bei Corestate besondere Vorsicht hinsichtlich der Bilanzansätze des immateriellen Vermögens angebracht...
Auf der anderen Seite sollte man aber auch nicht übersehen, dass auch Wirtschaftsprüfer durchaus in der Lage sind, die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Geschäftsergebnisse und des Börsenkurses zur absoluten Höhe und Entwicklung der Bilanzansätze der Firmenwerte zu erkennen.
Im Geschäftsbericht 2020 wurden meines Wissens erstmals die unterschiedlichen immateriellen Vermögenswerte detailliert aufgelistet und - im Unterschied zu vielen anderen börsennotierten Unternehmen - auch detaillierte Angaben zu den im Impairmenttest verwendeten Kalkulationszinssätzen gemacht.
Im Sinne echter Transparenz und intersubjektiver Überprüfbarkeit wäre es aus Anlegersicht freilich extrem wünschenswert gewesen, neben dem Nenner (Kalkulationszinssatz) auch den Zähler (periodenspezifische Plancashflows) offenzulegen. Dann hätte jeder geneigte Leser die jeweiligen Barwertermittlungen selbst nachvollziehen können.
Insofern lässt die Berichterstattung wiederum viel Raum für Spekulationen in jedwede Richtung, was besonders unerfreulich ist, da Unternehmensbewertungen dem Bewerter ohnehin enorme Ermessensspielräume bei der Wahl der einzelnen Parameter gewähren, weshalb es im Sinne der Vertrauensbildung umso wichtiger wäre, die bewertungsrelevanten Daten vollständig offenzulegen.
Nichtsdestotrotz sollte man den für die Abschlussprüfung verantwortlich zeichnenden Wirtschaftsprüfern nicht generell unterstellen, die Arbeit nicht gewissenhaft und dem Berufsrecht entsprechend auszuüben.
In der Post-Wirecard-Ära ist kein Wirtschaftsprüfungsunternehmen besonders erpicht darauf, als nächstes den Zorn der Gesellschaft wegen offensichtlich mangelhafter Prüfungsmaßnahmen auf sich zu ziehen.
Ein uneingeschränktes Testat für den Geschäftsbericht eines Unternehmens, dessen Eigenkapital nahezu vollständig durch immaterielle Vermögenswerte repräsentiert wird, wird in Kenntnis der für den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer sehr spürbaren Folgen des Wirecard-Skandals kaum ein WiP noch leichtfertig erteilen, was selbstverständlich nicht ausschließt, dass es im Fall Corestate nicht dennoch so gewesen sein könnte...
Auch hier ist es für uns Kleinaktionäre letztlich eine Vertrauensfrage... Wenn ich das zweifellos notwendige Grundvertrauen bei Corestate nicht aufbringen kann oder will, gibt es mit Sicherheit bessere Aktien...
Für meine persönliche Risikoeinschätzung ist folgende Überlegung nicht unwesentlich:
Für den neuen CEO Herrn Parmantier wäre es denkbar einfach gewesen, die Bilanz zum 31.12.2020 im Sinne eines Neustarts und eines optimalen zukünftigen Performance-Ausweises mit einer Mega-Abschreibung auf den HFS-Firmenwert zu bereinigen. Vor dem Hintergrund von Corona hätte man sicher irgendeine Begründung finden können, weshalb sich das Geschäftsumfeld nachhaltig derart eingetrübt hat, dass die dem ursprünglichen Kaufpreis zugrunde liegenden Annahmen sich zukünftig nicht mehr vernünftig darstellen lassen...
Die entsprechende Kapitalmarktmitteilung - Mega-Verlust, aber alles nicht dramatisch weil nicht cash-wirksam (klar, der viel zu hohe Kaufpreis ist ja längst geflossen) - haben wir Aktionäre bereits bei unterschiedlichsten Unternehmen zigfach lesen "dürfen"... vielfach (z.B. Euromicron) letztlich verbunden mit einer zeitnahen Insolvenzmeldung...
Herr Parmantier hat diesen für ihn sehr einfachen Weg nicht beschritten und sich den hohen HFS-Bilanzansatz mit Unterzeichnung des Geschäftsberichts letztlich - ohne Not - auf die eigenen Schultern geladen. Zudem hat er in Kenntnis sämtlicher Details des Impairmenttests gerade 9 Mio EUR in Corestate Aktien investiert.
Für mich persönlich ein Signal, dass die Risiko-Einschätzung der bilanziellen Situation und mithin auch den Blick auf zukünftige Erfolgspotenziale verändert...
... es bleibt auf jeden Fall spannend :-) |