Ich will mal hoffen, dass die 90jährige Dame der dichterischen Freiheit Tichys entsprungen ist. Ansonsten stünde der Verdacht im Raum, dass da jemandem ein Gewissen gemacht wurde zu Dingen, die nur in den Phantasmen von Tichy-Lesern existieren. Bekanntlich neigen die dazu, die Folgen unseres Minilockdowns apokalyptisch zu überhöhen, die Folgen der Pandemie für die Betroffenen und das Gesundheitssystem systematisch zu verniedlichen sowie das Sterben an und mit Corona für 90jährige Damen aus dem Altersheim zum unvermeidbaren Naturschicksal zu verklären.
Ich kenne ja einige echte 90jährige Leute, die in einem Altersheim leben. Dass die sich nun alle bereits sowieso schon im Sarg sehen und nach 'Erlösung' schreien würden kann ich so nicht bestätigen. Die allermeisten unter ihnen hängen an ihrem Leben, auch wenn es im Vergleich zu ihrem Vorleben als reduziert und eingeschränkt erfahren wird.
Es ist eigentlich mehr die Aussenperspektive, die das Leben eines Heimbewohners und sehr alter oder sehr kranker Menschen überhaupt als wertlos charakterisiert, dieses Leben selbst gelebt kann hingegen Dinge wertvoll werden lassen, über die man früher noch nicht mal nachgedacht aber möglicherweise doch lebenslang vermisst hatte. Unconditional positive regard und das Gefühl, in starken, sicheren Händen geborgen zu sein käme da infrage, beides ist in der pflegerischen Beziehung (mit hinreichend Zeit und Kapazität) angelegt.
Natürlich gibt es auch jene, bei denen die Verlusterfahrung relativ zu ihrem Vorleben übermächtig werden kann und die 'genug' haben. Handelt es sich dabei um einen ernsthaften Willen, werden sie die Nahrungsaufnahme verweigern. Aber die ganz grosse Mehrheit will leben, hat Angst vor dem Sterben und insbesondere auch Angst vor einem qualvollen Sterben.
Niemand unter den Heimbewohnern informiert sich aus Tichy, sondern wenn überhaupt aus der Tagesschau. Dass es ernst ist mit der Pandemie erfahren sie aber vor allem an ihrem pflegerischen Umfeld. Es werden notorisch Masken und Schutzkleidung getragen, es wird ständig getestet, die Körpertemperatur abgefragt, je nach Coronastatus erfolgen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und für Besuche. Man könnte fast sagen, im Heim wird Corona noch wirklich gelebt, vermutlich wird es niemand geben, der die Pandemie ernster nehmen wird als ein Heimbewohner.
Das ist kein Leben, werden viele sagen. Deshalb schreiben sie auch in ihre Patientenverfügung 'keine Schläuche!'. Aber steckt man erstmal drin, kann das alles ganz anders aussehen:
----------- relativism is vulgar materialism, thought disturbs the business |