Die Nöte der Warner
Geheimdienste und Polizei erwarten weitere Anschläge, aber ihnen fehlen konkrete Hinweise auf Orte und Zeiten
Von Annette Ramelsberger
Sie haben Giftgase, das ist sicher. Was sie sonst noch haben, liegt in der Bandbreite zwischen „möglich, wahrscheinlich und unwahrscheinlich“. Nur ausgeschlossen ist so gut wie nichts. Die Terroristen um Osama bin Laden sind im Besitz hochgefährlicher Stoffe, so viel wissen die internationalen Nachrichtendienste. Und sie wagen die Einschätzung, wann und wo die Terroristen diese Waffen einsetzen werden: bald kann das sein und auch sehr nah. „Es würde uns nicht wundern, wenn in unserer Nähe etwas passieren würde“, hieß es in dieser Woche am Rande eines Symposiums des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Pullach.
Die ganze Woche über gab es Warnungen vor möglichen Anschlägen. Zuerst sprach BND-Präsident August Hanning von einer „neuen Dimension“ der Gefahr. Dann erklärte der oberste BND-Terrorexperte Hans-Josef Beth, die Terrororganisation al-Qaida schicke ihre Leute gezielt nach Europa und nach Deutschland. Und am Freitag warnte Interpol-Generalsekretär Ronald Noble vor einer Welle größerer Anschläge – und das nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Staaten.
Die Geheimdienste beobachten, wie sich die schon zerschlagen geglaubte al-Qaida neu organisiert hat. Kuriere übermitteln den einzelnen Zellen geheime Nachrichten, über Computer und E-Mails kommunizieren die Kämpfer. Finanziers erfüllen kostspielige Wünsche. Und immer häufiger ist in den abgehörten Gesprächen der Terroristen von Gift die Rede. Die geheimen Giftküchen in Afghanistan und in Pakistan sind „weiterhin virulent“, sagt Beth. „Da schaukelt sich etwas hoch.“ Es gibt kaum etwas, was nicht in den Händen Osama bin Ladens und seiner Leute ist. Das giftige Anthrax, das in den USA für Panik und fünf Tote sorgte – „möglich“, heißt es beim BND. Der Erreger der Pest – ebenfalls „möglich“. Hautkampfstoffe – das gilt sogar als „wahrscheinlich“. Die „schmutzige Bombe“, eine mit atomaren Stoffen verunreinigte normale Bombe – auch sie ist „wahrscheinlich“. Nur das Pockenvirus und der Erreger von Ebola sind vermutlich nicht in den Händen der Terroristen – „unwahrscheinlich“ lautet die BND-Kategorie.
Was die Terroristen damit anstellen könnten, ist ziemlich klar umrissen: Sie wollen den Westen nicht nur wirtschaftlich treffen, sie haben es auf das Lebensgefühl der westlichen Welt abgesehen – deswegen die Anschläge von Djerba und Bali. Seit bin Ladens Stellvertreter Ayman al-Zawahiri im September über das Fernsehen ankündigte, die Islamisten würden „die Dosis“ an Terror für Frankreich und Deutschland erhöhen, gehen die Geheimdienste von einer sehr viel konkreteren Gefahr aus. Denn die Leute, die diese „Dosis“ verabreichen können, sind schon im Land. Es gibt „wenige Hundert Personen in Deutschland“, sagt Beth, die in afghanischen Trainingslagern waren und bereit wären, sich an Anschlägen zu beteiligen.
Und es kommen neue Kämpfer hinzu. Der BND beobachtet, wie immer mehr Verdächtige über die Türkei nach Deutschland geschleust werden sollen. Menschen, die hier keineswegs im Nichts ankommen, sondern mit bestens gefälschten Pässen ausgestattet sind und reichlich Unterstützung finden. Die Ermittler sind sicher: Deutschland ist im Visier der Terroristen – unklar ist nur, auf was sie zielen. Noch haben sie die Gifte, die sie besitzen, nicht angewendet. Vielleicht liegt das daran, dass islamistische Märtyrer bisher die spektakuläre Aktion bevorzugten: „Man will es krachen sehen, explodieren, rauchen“, vermutet Beth. Krachen aber kann es überall: in der dicht gedrängten U-Bahn, auf dem Weihnachtsmarkt, im Urlaubsflugzeug.
Hinter den Leuten, die nun nach Deutschland drängen, steht nach den Erkenntnissen der Ermittler der Jordanier Abu Mussab Zarqawi, ein Mann, der im Kampf gegen den Westen ein Bein verloren hat, ein Mann, der „an der Tafelrunde von bin Laden sitzt“, wie es beim BND heißt. Er hat Erfahrung mit Giften und biologischen Kampfstoffen. Erst im Juli wollte er Gift in die Türkei schmuggeln, getarnt als Salbe. Er ist der operative Führer der aggressiven Gruppe al-Tawhid, deren deutschen Ableger der Generalbundesanwalt im Frühjahr ausgehoben hat.
Wie solche Gruppen agieren, konnten die Nachrichtendienste an einer Terrorzelle in Marokko studieren. Im Mai wurden dort drei Saudis festgenommen, die in Karatschi den Auftrag bekommen hatten, Anschläge auf amerikanische und britische Schiffe zu verüben. Als sie merkten, dass die zu gut gesichert waren, suchten sie eine Alternative: Sie legten eine Bombe in einem Café. Als die nicht zündete, zapften sie die Al-Qaida-Kanäle an, um zu erfahren, wie man eine Bombe baut, die wirklich hochgeht. „Das funktioniert wie bei einem Franchising-System“, sagt Beth. „Aus der Zentrale kommen Wissen und Geld, an der Front herrscht große Freiheit.“ Die Freiheit zu töten |