Die jungen Wilden vom Bosporus
Türkische Unternehmen drängen mit Macht auf Europas Märkte. Sie produzieren am Bosporus, wenn es der Qualität dient und lagern aus, wenn die Türkei zu teuer wird. Sie kaufen deutsche Marken, um zu wachsen. Nur eines tun sie nicht: untätig warten, bis die EU über einen Beitritt der Türkei entscheidet. Vor allem Istanbul macht Tempo.
Von Kai Lange Istanbul erwacht gerade: Das Wahrzeichen Istanbuls - die blaue Moschee Istanbul erwacht gerade: Das Wahrzeichen Istanbuls - die blaue Moschee © manager-magazin.de Vergrößern (Symbol)
Istanbul - "Wir sind nicht auf dem Weg nach Europa", sagt Attila Ilbas. "Wir sind längst da." Der General Manager von Arcelik blickt auf das Ende der Fertigungslinie: Alle sieben Sekunden läuft hier eine Waschmaschine vom Band. Europas größte Fertigungsstätte am Stadtrand von Istanbul spuckt mit jeder 16-Stunden-Schicht 10.000 Maschinen aus.
Um die Weiße Ware in Deutschland an den Mann zu bringen, haben die Türken die Traditionsmarke Blomberg übernommen. Unter dem Label Beko verkaufen sie die gleichen Maschinen in mehr als 100 Ländern der Welt: "Arcelik ist eine Topmarke in der Türkei. Im Ausland kann das aber niemand aussprechen", sagt Ilbas. 2,7 Milliarden Euro Umsatz hat das Unternehmen im vergangenen Jahr erzielt, davon knapp die Hälfte im Export. Manager Ilbas hat keinen Grund, sich aus Europa ausgesperrt zu fühlen.
Made in Turkey, sold in China Anzeige
Europa ist dem türkischen Hersteller von Haushaltsgeräten bereits zu klein geworden. Bis zum Jahr 2010 soll die Marke Beko zu den stärksten Marken der Welt gehören. Um dieses Ziel zu erreichen, wagt das zur mächtigen Koc Holding gehörende Unternehmen das in Deutschland kaum Denkbare: Arcelik macht sich daran, Waschmaschinen und Geschirrspüler nach China zu exportieren.
Weiße Ware nach China exportieren? Ausgerechnet in das Land, wohin die meisten Global Player ihre Produktion verlagert haben? In das Billiglohnland, das für das Sterben klassischer westeuropäischer Industriefelder verantwortlich gemacht wird? "Der Markt dort ist schwierig, aber er bietet Chancen", sagt Ilbas mit demonstrativer Gelassenheit. Er glaubt daran, dass die Formel "Made in Europe - sold in China" funktionieren kann - zumindest im Fall Türkei.
Türkei ist kein Billiglohnland mehr
"Die Türkei ist derzeit der weltbeste Standort, um hochwertige Haushaltsware herzustellen", ist Ilbas überzeugt. Dabei gehe es nicht nur um Kosten: Mit Lohnkosten, die bei etwa einem Viertel der deutschen Aufwendungen liegen, ist die boomende türkische Volkswirtschaft kein Billiglohnland mehr. Wenn türkische Unternehmen ihre Produktionskosten drücken wollen, lassen sie, wie Arcelik, zusätzlich in Rumänien und in Russland fertigen.
Im Werk Istanbul, in dem derzeit noch 1500 Menschen arbeiten, werden zudem immer mehr Arbeitsplätze durch technische Optimierung wie die vollautomatische Endkontrolle eingespart. Auch in der Türkei ist Automatisierung längst ein Thema.
Gleichzeitig sind Produktivität und technisches Know-how in Arceliks türkischen Produktionsstätten derart gestiegen, dass in der Kombination aus Kosten und Qualität ein enorm schlagkräftiger Exporteur entstanden ist. Arcelik gehört in seiner Branche zu den Top Five in Europa. Ein Exporteur, der sogar in Asien erfolgreich sein und damit verwirklichen kann, wovon die meisten deutschen Unternehmen bislang nur träumen. "Chinesen lieben Qualität - wir müssen also qualitativ um so viel besser sein, wie wir teurer sind", sagt Ilbas. Ob dies auch auf deutscher Kostenbasis funktionieren kann, lässt Ilbas offen. Er will seine Gäste nicht verärgern.
Europa fordert Geduld
Die Türkei mag noch zehn bis 15 Jahre vor sich haben, bis sie politisch Aufnahme in der Europäischen Union findet. Türkische Unternehmen sind dagegen spätestens seit der Zollunion 1996 in Europa aktiv und treiben den Wandel in ihrer Heimat voran. Sie sind mutig, erfolgreich und haben keinen Grund, sich als Bittsteller zu fühlen.
Viele Türken sind ungeduldig. Seit das Land 2001 knapp am Staatsbankrott vorbeischrammte, erleben sie rasantes Wachstum und Reformen. Ministerpräsident Tayyip Erdogans Regierungspartei AKP schaffte die Todesstrafe ab, gestand den Kurden mehr Rechte zu und beschleunigte die Privatisierung. Die türkische Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um knapp 9 Prozent gewachsen, in diesem Jahr werden es rund 5 Prozent sein. Die Börse brummt, ausländisches Kapital fließt reichlich, Inflation und Staatsverschuldung sinken, das Staatsdefizit wird 2006 wahrscheinlich unter 3 Prozent betragen. Warum, fragen sich nicht nur türkische Unternehmer, will sich die EU trotz dieser Dynamik so viel Zeit lassen?
Doga: Türkisches Müsli, deutsche Haferflocken
Vor allem in Istanbul sind Unternehmergeist und Mut zur Veränderung besonders stark zu spüren. Die Stadt am Bosporus, deren Brücken Europa und Asien verbinden, bietet auch immer mehr deutschen Unternehmern eine Perspektive. Die Zahl der deutschen Firmen sowie deutsch-türkischen Joint Ventures in der Türkei ist nach Angaben der Handelskammer auf knapp 2000 gestiegen. "Gute Qualität zu vernünftigen Preisen produzieren - das ist verlockend", meint Ilbas. Er fügt hinzu: Bevor die EU über die Aufnahme der Türkei entscheidet, werden noch viele Westeuropäer ihr Glück in der Türkei versuchen.
Partner in Deutschland hat Feryal Menemenli bereits gefunden. Die energische 42-Jährige stellt nahe Istanbul unter der Marke Doga Müsli-Riegel, Kräutertee und allerlei gesunde Snacks ohne chemische Zusätze her. "Wir sind Trendsetter, bieten Premiumprodukte für einen jungen, wachsenden Markt", sagt die Gründerin des 100-Mann-Unternehmens. Haferflocken und ausgewählte Teesorten kommen zum Teil aus Deutschland, weil deutsche Biobauern für biologisch-dynamische Qualitätsstandards garantieren können.
"Natürlich könnten wir unsere Zutaten auch aus Anatolien beziehen - aber zunächst müssen wir den Anbau nach bestimmten Richtlinien sicherstellen", sagt Menemenli. Bis es soweit ist, beliefern deutsche Biobauern eine aufstrebende und trendbewusste Käuferschicht im Agrarland Türkei: Auch auf solch verschlungenen Wegen wächst Europa zusammen.
Doga verlässt sich nicht auf eine Wellness-Welle in prosperierenden türkischen Metropolen wie Istanbul und Ankara. Das Unternehmen hat auch den englischen Markt in den Blick genommen. Bei Tesco und Sainsbury sollen bald die ersten Doga-Riegel erhältlich sein - unter der Marke Nutridigest und mit der aufmunternden Wirkung einer Tasse grünen Tees will man gegen Konkurrenz wie Kellogg's bestehen. Dass auch der englische Teegigant Lipton inzwischen auf dem türkischen Markt angreift, ficht Menemenli nicht an: "Wir haben hier einen jungen, wachsenden Markt, und Konkurrenz wird diesen Markt noch stärker beleben." Picasso-Ausstellung im Museum of Modern Art: Reise aus der Provinz ins neue Istanbul Picasso-Ausstellung im Museum of Modern Art: Reise aus der Provinz ins neue Istanbul © manager-magazin.de Vergrößern (Symbol)
Mobilfunk: Investoren ante portas
Auf belebende Konkurrenz richtet sich auch Baris Öney ein, Vorstand beim türkischen Mobilfunker Turkcell . Der türkische Marktführer zählt knapp 27 Millionen Kunden und ist damit das viertgrößte Mobilfunkunternehmen in Europa: Turkcell-Aktien werden in Istanbul sowie an der New York Stock Exchange gehandelt. Mit europäischen Regulierungskünsten ist Öney bestens vertraut - er ist gespannt, unter welchen Bedingungen der türkische Staat im nächsten Herbst seine UMTS-Lizenzen vergeben wird.
Investoren aus Europa und dem Nahen Osten drängen jedoch schon früher auf den Markt. Bis Mitte Dezember wird sich entscheiden, welcher ausländische Bieter den zweitgrößten türkischen Mobilfunker Telcim übernehmen wird. Selbst ein enorm schlagkräftiger europäischer Konkurrent wie Vodafone ist Öney lieber, als dass Konkurrent Telcim wie bisher wie ein Staatsunternehmen geführt wird. "Wir werden nach dem Verkauf eine starke Konkurrenz haben. Aber eine, mit der wir besser umgehen können." Statt mit einem Staatsunternehmen zu konkurrieren, nimmt es Turkcell lieber mit dem Rest der Welt auf.
Mavi Jeans: Welcome to Maviland
Den Sprung zur globalen Marke hat Mavi Jeans bereits geschafft. Der türkische Marktführer exportiert in 50 Länder und hat im vergangenen Jahr rund 7,5 Millionen Jeans verkauft.
Doch auch ein türkischer Jeanshersteller kann es sich längst nicht mehr leisten, all seine Jeans in der vergleichsweise teuren Türkei zu fertigen: Ebenso wie die globale Konkurrenz lässt Mavi die meisten seiner Jeanshosen, Jacken und Taschen in Asien und Indonesien schneidern. "Wir sind ein Marketingunternehmen. Unsere Kraft liegt in der Marke", sagt General Manager Nurettin Kantarelli kühl. Besonders stolz ist er auf die riesige Leuchttafel am New Yorker Times Square: "Made in Maviland" steht darauf. Wo auch immer das ist. "Wir wollen überall sein", sagt Kantarelli.
Mavi hat den Blick nach Westen gerichtet. Will sich an den Marktführern messen, statt Pionier in den neuen Märkten zu sein. Wer im Jeansgeschäft Erfolg haben wolle, müsse in den USA erfolgreich sein, sagt Kantarelli. Die Nähe der Türkei zu Osteuropa und dem Nahen Osten mögen andere Branchen nutzen. "Wir brauchen keine Abenteuer in diesen neuen Märkten - wenn wir im Westen unsere Ziele erreichen, werden die östlichen Märkte folgen", so der Mavi-Manager.
Mit viel Musik und schicken Bildern, Flagship-Stores in Los Angeles, Berlin und London, dem Mavi-Basketball-Cup und einem eigenen Filmfestival eint Mavi seine Kunden: Westlicher geht es kaum. Auch der Preis kann mit Edelmarken wie Levi's oder Lee durchaus mithalten. "Weder Teppiche noch türkischer Kaffee sind zur ersten erfolgreichen Exportmarke der Türkei in den USA geworden", notierte das Magazin "Newsweek". Es sind Jeans, ausgerechnet Jeans.
"Untätigkeit ist keine Option"
Mavi, Turkcell, Beko/Arcelik: Türkische Marken behaupten sich prächtig in Europa und über Europa hinaus. Sie gründen ihren Erfolg nicht nur darauf, dass in der Türkei noch vergleichsweise günstig produziert wird. Sie haben ihre Produktion teilweise selbst nach Rumänien, Asien oder Russland ausgelagert, kooperieren mit Partnern, treiben Forschung und Innovationen voran, stärken die Kraft ihrer Marken, erschließen ausländische Märkte. Sie tun das, was westeuropäische Konkurrenten auch tun. Doch weil die jungen Wilden vom Bosporus in ihrem Heimatmarkt kräftigen Rückenwind verspüren, wachsen sie schneller.
"In der Türkei ist Dynamik zu spüren, das Vertrauen in die Wirtschaft ist zurückgekehrt", sagt Dilek Yardim, Chefin der Deutschen Bank in Istanbul. "Untätigkeit ist hier für niemanden eine Option."
In ihrem Büro im 18. Stock blickt Yardim auf ein 80 Jahre altes Ölbild einer beschaulichen anatolischen Landschaft. Daneben, durch die Fensterfront, fällt der Blick auf die mächtigen Türme der Akbank . In Kürze könnte wenige Meter weiter der noch größere "Dubai Tower" hochgezogen werden, der die Glastürme in Istanbuls Financial District klein erscheinen ließe. Investoren aus dem Nahen Osten treiben am Bosporus die Preise: Die Deutsche Bank hat in einigen Bieterwettbewerben in diesem Jahr den Kürzeren gezogen, doch Untätigkeit will sich auch das deutsche Geldhaus hier nicht leisten.
Europa kann warten
Und Europa? Nach drei Sturm- und Drangjahren vermag niemand einzuschätzen, wo die Türkei in zehn bis 15 Jahren stehen wird. Geschweige denn, in welchem Zustand sich die Europäische Union in dieser fernen Zukunft befinden wird. "Die Menschen registrieren, dass die EU derzeit in Schwierigkeiten ist", sagt Ferhat Boratav, Chefredakteur von CNN Turk. "Doch sie ist weiterhin wichtig für uns, weil sie Wandel fordert und fördert."
Zum Wandel der Türkei gehören Konflikte und Streit. Das Land nimmt Gegensätze mit auf den Weg, die es auszutragen gilt. Während Mavi Jeans eine neue Lifestyle-Kampagne in New York startet, wird in türkischen Städten über ein generelles Alkoholverbot diskutiert. Türkische Lehrer werden zwangsversetzt, weil sie während des Rufs des Muezzins die Schulfenster geschlossen haben. Gleichzeitig stehen Bürgerinnen Istanbuls morgens vor dem Produktionsgebäude von Channel 4 Schlange, um an der Mittags-Talkshow zum Thema "Neue Mütter" teilzunehmen. Familien aus der Provinz reisen nachts im Überlandbus nach Istanbul, um die Picasso-Ausstellung und das neue Istanbul Museum of Modern Art zu besuchen. "Es wird noch viele schmerzhafte Auseinandersetzungen geben", sagt Chefredakteur Boratav. "Doch ohne sie wäre der Wandel nicht gesund".
Für die Türkei sei der Weg dorthin wichtiger als das Ziel einer EU-Mitgliedschaft: "Der Wandel dient nicht dem Ziel, die Vorgaben der EU zu erfüllen. Er dient unmittelbar dazu, dass es der Türkei besser geht", sagt Boratav. Das Land sei auf dem Weg, wirtschaftlich sogar auf der Überholspur. "Wir fühlen uns gut dabei", sagt Boratav. Europa könne warten - doch ihren Schwung werde die Türkei auch im kommenden Jahr nutzen.
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