Ich bin schon seit einiger Zeit ein stiller Mitleser dieses Threads sowie seiner Vorgänger und da ich zugleich ein leidenschaftlicher Trader bin, allerdings nicht mehr im Dax, sondern im EStoxx (wegen geringerer Margin-Anforderungen im Futurehandel), wollte ich auch einmal meine Sichtweise kundtun.
Wie, wenn ich es richtig verstehe, viele Teilnehmer des Threads bin ich auch eher bärisch eingestellt, nicht, weil ich es in der jeweiligen Phase für angemessen halte, sondern weil es in bärischen Märkten viel spannender und aufregender ist zu handeln - sowohl long als auch short, wobei ich lieber auf der Shortseite stehe (was mich allerdings schon jede Menge Geld gekostet hat).
Früher hätte ich bei einer Aussage von Draghi (und wohl davor) angefangen, wie blöd in (noch nicht gelaufene) Nebenwerte zu investieren und mich bis heute dumm und dusselig verdient. Durch die bärisch skeptisch eingestellte Sichtweise habe ich eigentlich nicht nur kein Geld gewonnen, sondern auch noch sehr viel verloren, weil ich den Anstieg für ungerechtfertigt hielt angesichts der weiter ungelösten Probleme und einen Short nach dem anderen verbrannt habe (und bei Long immer schon nach wenigen Punkten ausgestiegen bin und nicht einfach einmal laufen ließ). Es ist faszinierend, aber vielleicht geht es nur mir so, dass ich den fallenden Phasen mit Short nicht so viel gewinne wie ich anschließend in den steigenden Phasen damit wieder verliere. Das Verhältnis, sehe ich auf mein Konto, dürfte so bei 3:1 zu meinen Lasten liegen, schätze ich mal.
Zum aktuellen Geschehen kann ich nur sagen, dass es wieder einmal einer dieser typischen Bullenmärkte ist - langsames ruhiges Gedaddel, untersetzt mit bullischen Kerzen. Keine gute Chance für Shorttrader etwas zu verdienen (mit Ausnahme des Einbruchs bis 6900, der aber, bis ein Shorttrader richtig drin ist, sofort wieder umgedreht wurde und die Nachfolgeshorts wahrscheinlich alle verbrannt hat), sieht man mal von kleineren Intraday-Gewinnen ab (alles eine Frage des zeitlichen Horizonts - in der Wedge konnten natürlich auch Shorttrader Gewinne machen, wenn sie richtig eingestiegen sind). Sobald Verkaufslaune auftritt, wird dies sofort zum Nachkaufen, Hochkaufen oder sonst wie genutzt. Ob dies "künstlich" geschieht, wie hier teilweise vertreten wird, oder ob dies einfach der Not der großen Häuser geschuldet ist, irgendwie Rendite zu machen und bloß dabei zu sein, wenn es weitergeht mit der Rallye, weiß ich nicht. Wird wahrscheinlich eine Mischung aus beidem sein. Mir kommt es nur so vor, dass wir noch lange nicht am Ende sind, auch wenn die charttechnischen Grenzen erreicht zu sein scheinen bzw. die Indikatorenlage etwas anderes andeutet. Aber es will zurzeit keiner verkaufen. Wenn das Geschehen nach oben geöffnet wird und die steigenden Dreiecke im Dax und das W im EStoxx nach oben fortgesetzt werden, dann geht es noch einmal extrem nach oben (nmM), ob dies gerechtfertigt ist oder nicht, spielt dann keine Rolle mehr. Die Angst, das zu verpassen, treibt die Leute immer wieder - auch bei diesen Höchstständen - in Aktien.
EDDL hat sich letztes Jahr September ja bereits bei der 7000 die Frage gestellt, wer jetzt noch Aktien kauft (ich hatte mir diese Frage seinerzeit auch gestellt) - heute wissen wir es: diejenigen, die auf die 7800 im Dax hofften. Und heute kaufen diejenigen, welche auf die 8200 und später 9000 im Dax hoffen. So einfach ist das. Ob dies die von Helmut erwähnten "Hausfrauen" sind, weiß ich nicht. Angesichts des Volumens, was noch investiert wird, gehe ich davon aus, dass auch der eine oder andere professionelle Investor dabei sein dürfte. Wenn ich meinen Bankleuten glauben darf, dann steht noch sehr viel Geld an der Seitenlinie (was derzeit im x-fach größeren Anleihemarkt investiert ist, dort aber keine Rendite mehr abwirft), so dass man jedenfalls nicht sagen kann, dass die Wahrscheinlichkeit weiterer Anstiege nicht gegeben ist und dass diese Anstiege auch nachhaltig sein können. Sicher wird es irgendwann mal wieder fallen, die Frage ist nur, von wo aus und bis wohin. Zudem darf man nicht vergessen, dass das KGV der Dax-Unternehmen - es ist bereits von einigen Teilnehmern erwähnt worden - immer noch historisch niedrig ist und das bei diesem Dax-Stand. Als wir 2000 bei 8000 waren, lag das KGV bei etwa 30 und 2008 beim gleichen Stand bei etwa 17, heute ist es bei 11-12, also völlig normal und mit (viel) Platz nach oben für "Übertreibungen" (bis KGV 17 hätten wir noch einmal gut 40-50 % - nur so als Hinweis).
Ich kann vielen hier nur beipflichten, dass ich mir auch die "alten" Zeiten zurückwünsche, wo wir zwischen 5500 und 6500 hin und her gerast sind. Da war Leben drin und man konnte viel Geld verdienen, aber auch - wie wohl die meisten, mich eingeschlossen - verlieren. Trotzdem hat das Trading Spaß gemacht. Diese Hektik ist aber nicht im Sinne derjenigen, welche die Märkte beaufsichtigen, handeln und kontrollieren wollen. Diese haben wieder die Macht übernommen (und der Bär hat jedes Mal sang- und klanglos verloren) und es zeigt sich momentan am Horizont kein NEUES Problem, welches diese Ruhe stören könnte. Die Abstürze in 2008/2009 und 2011 kamen zwar "einigermaßen" überraschend in ihrer Vehemenz, aber das Chartbild hatte sich damals immer schon etwas eingetrübt (2011) bzw. war ausgereizt (2008), die Nervosität hatte zugenommen und - wohl entscheidend - in der Nachrichtenwelt wurde unterschwellig oder offen bereits jeweils auf ein extrem großes, neues Problem hingewiesen, was die Leute vom Kauf von Aktien abhielt und sie vorsichtiger werden ließ. Hiervon sind wir meiner Meinung nach zurzeit sehr weit entfernt. Alle volkswirtschaftlich bekannten Probleme sind im Moment, wenn auch mit sehr viel Einsatz und Risiko, kontrollierbar geworden (und noch wichtiger: sie sind BEKANNT) - jedenfalls nach Auffassung der Masse und die ist ja bekanntlich entscheidend. Wie heißt es an der Börse (frei wiedergegeben): Man muss immer das machen, wo von man ausgeht, würde die Masse annehmen, dass man machen muss.
Ich rate niemanden zum Kauf und Verkauf von irgendwelchen Assets. Der aktienorientierte Trader in mir würde aber sagen, dass es zumindest eine realistische Chance auf neue, ungeahnte Höhen gibt und der (immer noch vorherrschende) Bär in mir würde weiter trotzig auf die ungelösten Probleme und den scheinbar ausgereizten Chart hinweisen und darauf hoffen, dass irgendwo endlich mal wieder ein Problem herkommt, welches die Börsenwelt erschüttert. Aber sehen kann er es momentan auch nicht. Der Euphoriepegel ist auch noch nicht dermaßen ausgereizt, dass schon ein kleines Problemchen und ein kleiner Abverkauf Panik auslösen würden - im Gegenteil, es würde voraussichtlich sofort wieder hochgekauft werden.
Als Bär erfüllt mich schließlich insbesondere das hohe Entwicklungspotential im EStoxx mit Sorge. Dort stehen wir auf etwa 60 % des 2008er Stands und der Dax ist schon wieder nahezu auf eben diesem Niveau. Und wer weiß, dass EStoxx und Dax (üblicherweise) bis auf wenige Prozent im Jahr (im letzten Jahr hat der EStoxx 5 % schlechter "performed") korrelieren, der erkennt auch mögliche Auswirkungen auf den Dax, sollten sich die Europäer insgesamt weiter erholen.
Soviel zu meiner Einschätzung. Vielleicht schaffe ich es ja, mich öfters mal ins Gespräch mit einzuklinken, aber beruflich ist das nicht so einfach und ich bin auch nicht so ein gewiefter Chartexperte wie andere hier im Thread, so dass ich wahrscheinlich nicht sehr viel Wissenswertes werde beitragen können.
In diesem Sinne allen ein schönes Wochenende. |