Ist die Rezession eine Fata Morgana?
von weissgarnix, 20. Juni 2008
Lesern, die sich gewundert haben, warum ich in den letzten beiden Tagen so gut wie nichts geschrieben habe, sei gesagt, dass ich auch noch einen Hauptberuf habe, der ab und an meine Aufmerksamkeit erfordert. Im Rahmen dieser Tätigkeit verbrachte ich diese Woche auf einer Konferenz, auf der zahlreiche große Investitionsgüterunternehmen präsent waren. Und was die Damen und Herren dort so erzählten, klang noch nicht mal im Ansatz nach Rezession, im Gegenteil: Ressourcenknappheit allenthalben, Gewinne auf Rekordniveau und Auftragsbücher, die weit bis ins nächste Jahr hinein proppenvoll sind. Der Begriff “Rezession” tauchte zwar in einigen Präsentationen ab und an mal auf, erntete dann aber stets dieselbe Reaktion: schallendes Gelächter.
Dabei sollten wir vielleicht mal ein wenig präzisieren: auf dieser Konferenz tummelten sich keine monothematischen Player, die mit einer Art von Produkt auch nur eine bestimmte Branche bedienen, sondern die meisten der vertretenen Unternehmen sind stark diversifiziert und beliefern mit unterschiedlichsten Lösungen eine ganze Reihe von Branchen, von Lebensmittel und Konsumgütern über Chemie und Pharma bis hin zu Öl und Energie.
Und mein Fazit der Konferenz kurz und knapp: in allen diesen Märkten geht derzeit immer noch die Post ab. Vor allem in der Energiebranche, in der neben China ein jahrelanger Investitionsstau in den meisten europäischen Ländern aber auch in Regionen wie z.B. Südafrika zum Tragen kommt. Einige der präsentierenden Unternehmen, die auf den Energie- und Kraftwerkssektor fokussiert sind, berichteten Rekorde sowohl bei der bisherigen Gewinnentwicklung als auch beim Auftragseingang. Und da in dieser Branche die Aufträge über mehrere Jahre laufen, haben sie ziemlich zuverlässige Sicht bis weit in das nächste und teilweise auch das übernächste Jahr, und da ist von Abschwächung oder gar Rückgang nach wie vor nichts zu sehen.
Das gilt insbesondere für Firmen, die stark in China engagiert sind. Von dort wurde eine erneute Beschleunigung der Expansion gemeldet, teilweise mit Wachstumsraten zwischen 30 und 40%. Querbeet durch alle Sektoren, Energie, Bau, Lebensmittel, Chemie … die Behebung der Schäden des kürzlich stattgefundenen Erdebebens wirkt zudem zusätzlich beschleunigend.
Nicht nur die Auftragseingänge, sondern auch die Gewinnentwicklung einiger dieser Firmen ist bemerkenswert, und selbst für das letzte und das laufende Quartal wurden von einigen Gewinnsteigerungen von 20-30% gemeldet, ohne Währungseffekte wohlgemerkt.
Der einzige Kontrapunkt, auf den sich alle verständigen konnten, war die Automobilzulieferindustrie, bei der läuft es zugegebenermaßen nicht ganz so phantastisch, allerdings blieben die ganz großen Einbrüche auch hier bislang aus.
Auch aus Südafrika und angrenzenden Ländern wurden gewaltige Neuprojekte gemeldet, insbesondere im Kraftwerkssektor aber auch in der Bergbauindustrie. Südafrika scheint seine notorischen Probleme noch vor der nächsten Fußballweltmeisterschaft in den Griff kriegen zu wollen und liess eine ganze Reihe von neuen Kraftwerksprojekten vom Stapel, und investiert auch massiv in Erweiterungen und Upgrades bestehender Installationen. Südafrika ist dabei ein Spezialfall, an dem nicht alle westlichen Unternehmen in gleichem Ausmaß partizipieren können, sondern nur diejenigen, die “BEE-compliant” sind. BEE steht für “Black Economic Empowerment” und kann als eine Art Kompensation für die jahrzehntelange Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung verstanden werden. Unternehmen in Südafrika, bzw. solche, die dort Geschäfte machen wollten, wurden so gezwungen, vorwiegend schwarze Arbeitnehmer einzustellen, lokal zu produzieren und sogar Minderheitsbeteiligungen an farbige Investoren abzutreten, andernfalls blieben große Geschäfte mit den staatsnahen Unternehmen aus Energie (Eskom) oder Öl und Chemie (Sasol) eine Illusion. Viele westliche Anbieter kehrten daraufhin Südafrika den Rücken, andere blieben und arrangierten sich mit dem BEE-Programm, dafür werden sie jetzt mehr als reichlich belohnt. Ich habe mich selbst z.B. mit dem CFO der Südafrika-Tochter eines US Kraftwerksausrüsters unterhalten, der mir erzählte, dass sein jährlicher Umsatz in den letzten Jahren irgendwo bei 30-50 Millionen Dollar lag. Sein Auftragsbestand über die nächsten 3 Jahre beträgt aber bereits jetzt über 1 Milliarde Dollar, von denen zwischen 300 und 400 Millionen Umsatz pro Jahr realisiert werden, sprich er hat seinen Umsatz verzehnfacht. Sein Hauptproblem lautet jetzt, wie für die meisten anderen auch: “Woher die Leute kriegen, die diese Aufträge abarbeiten?”
Jetzt weiß ich natürlich auch, dass die Investitionsgüterbranche tendenziell erst am Ende des Zyklus so richtig in Fahrt kommt, und die Bäume daher auch für diese Unternehmen nicht in den Himmel wachsen werden. Aber wie gesagt, ein Einbruch ist noch nicht mal am Horizont erkennbar, und selbst wenn, würde es wegen der langen Vorlaufzeiten noch mindestens 12-18 Monate dauern, bis er tatsächlich beschäftigungs- und gewinnwirksam werden würde.
Noch ein Wort zum Credit Crunch, denn da sich auf besagter Konferenz vorwiegend CFOs tummelten, war das Thema Kreditverfügbarkeit und Finanzierung natürlich auf der Tagesordnung, doch auch hier: keine Wolken in Sicht. Einige der präsentierenden Unternehmen denken sogar weiterhin an Aktienrückkäufe im großen Stil, da ihre Verschuldungsquoten historisch niedriges Niveau von 1-2 x EBITDA erreicht haben. Diese Aussagen decken sich übrigens auch mit Informationen, die mir Banker schon seit Wochen zurufen, bei denen es nämlich im Corporate Finance Sektor offensichtlich heißt: “Vollgas geben!”
Mit einem Wort: ich bewegte mich in den letzten paar Tagen in einem Paralleluniversum, in dem die Begriffe “Rezession” oder gar “Deflation” schlicht nicht zum aktuellen Wortschatz zählen. “Inflation” hingegen ja, und zwar ganz massiv, alle vertretenen Unternehmen beklagen akute Personalknappheit, insbesondere in Afrika und China, zudem steigen die Löhne in diesen Ländern unvermindert mit zweistelligen Jahresraten. Die jüngsten offiziellen Richtlinien in China lauten z.B. für Peking +11,5% und Shanghai +11%. Zudem sind die Metallpreise weiterhin auf Rekordniveau und die Verfügbarkeit limitiert, insbesondere für Chrom, Titan, aber auch etwa für Schrotteisen.
Und noch ein abschliessendes Caveat: ich rede hier von internationalen Großunternehmen, bei denen die Umsatz- und Gewinnperformance nicht mehr mit der konjunkturellen Entwicklung des Heimatlandes übereinstimmen muss. Eine ganze Reihe der Firmen hat ihren Sitz an der amerikanischen Ostküste, i.e. in Staaten wie Michigan, New York oder Wisconsin, von denen wir wissen, dass der lokale Produktionssektor alles andere als boomt. Und mit dem US-Markt sind diese Firmen auch alles andere als glücklich (bis auf die Kraftwerkszulieferer, bei denen brummt es auch in USA), aber ihre Zuwächse erzielen sie halt in Übersee, und die überkompensieren die Schwächen auf dem Heimatmarkt derzeit deutlich. Kann also durchaus sein, dass die USA dennoch in eine Rezession abrutschen, obwohl es den großen US Konzernen so blendend geht, wie selten zuvor.
Dennoch: zählt man alles zusammen, dann fällt es aktuell ein wenig schwer, an den großen deflationären Einbruch zu glauben, in USA nicht, und in Europa schon überhaupt nicht. Der Kredit fliesst nach wie vor in Strömen, die Beschäftigung scheint halbwegs stabil, und die Zentralbanken wild entschlossen, keine größere Geschäftsbank untergehen zu lassen, selbst um den Preis eines heftigen monetären Debasements … ich sehe da eine Menge Gründe, hinsichtlich Inflation alert zu bleiben, aber mir will derzeit partout nichts in den Sinn kommen, was für den großen Crash spricht.
Aber OK, vielleicht gucke ich ja auch nur in die falsche Richtung …
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