Vorsicht mit dem KGV!
von Detlev Landmesser
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) verspricht Anlegern eine rasche Orientierung, ob eine Aktie "teuer" oder "billig" ist. In manchen Phasen taugt diese wichtige Kennzahl aber wenig. Besonders derzeit. Auch über niedrige KGVs kann man stolpern - die meisten sind Makulatur "Eine Daimler mit einem KGV von 4,1? Die ist aber billig, da steig ich jetzt ein!" – so mag mancher Anleger denken, der dieser Tage den Kursteil seiner Zeitung studiert und unter all dem Horror nach Erfreulichem sucht.
Vielleicht wird es sich in ein paar Monaten aus der Rückschau tatsächlich als richtig erweisen, jetzt Aktien zu kaufen. Dazu aber die aktuellen Kurs-Gewinn-Verhältnisse für dieses und nächstes Jahr heranzuziehen, wäre mehr als gewagt. Selten hatten die ausgewiesenen KGVs weniger Aussagekraft als heute. Denn die allermeisten Gewinnschätzungen der Analysten, auf denen die KGVs beruhen, sind Makulatur.
Was das KGV aussagt – und was nicht Meilenweit von der Realität entfernt
Der Fall Daimler illustriert, wie dramatisch sich das fundamentale Umfeld in wenigen Monaten gewandelt hat - und wie meilenweit die meisten Analystenschätzungen derzeit von der traurigen Realität entfernt sind. Für das dritte Quartal meldete der Autokonzern am Donnerstag gerade noch 213 Millionen Euro Gewinn – die durchschnittlichen Gewinnschätzungen hatten dagegen bei 960 Millionen Euro gelegen. Und das bei einem Weltkonzern, dessen Geschäft von hunderten Experten laufend analysiert wird. Kein Wunder, dass Daimler seine Quartalszahlen mit einer Gewinnwarnung garnierte.
Die Gewinnwarnung hat Hochsaison Eine "Gewinnwarnung" ist eben deshalb eine Warnung, weil die Gewinnerwartungen "des Marktes", genauer der Analysten, noch zu hoch und die daraus abgeleiteten Einschätzungen – etwa Anlageempfehlungen und Kursziele – entsprechend unfundiert sind. Wie üblich, folgten am Freitag die ersten Herabstufungen durch Analysehäuser, die ihre Gewinnschätzungen, Kursziele und Anlageurteile nach unten anpassten.
Ein Spiel, das sich in schöner Regelmäßigkeit wiederholt, wenn ein Konjunkturzyklus endet. Was die Börse über fallende Kurse schon viel früher vorwegnimmt, wird von den Analysten nur äußerst zögerlich nachvollzogen. Aus den Boomjahren 1999/2000 ist auch das Phänomen bekannt, dass für Unternehmen beharrlich Gewinne geschätzt wurden, die tatsächlich dann niemals einen Cent verdient haben.
Ein Kapazitätsproblem Muss man den Analysten deshalb einen Vorwurf machen? Nur bedingt. Zum einen ist ihr häufig überzogener Optimismus systembedingt, das heißt mehr oder weniger direkt von der Politik ihres Hauses diktiert. Zum anderen sind auch "Experten" nach aller Erfahrung kaum in der Lage, in einem derart unübersichtlichen Umfeld belastbare Zukunftsaussagen zu treffen. Der Rest ist ein schlichtes Kapazitätsproblem. Ein Analyst hat viele Aktien zu betreuen, und eine Neueinschätzung, die zunächst für Kunden erstellt wird, muss schließlich fundiert werden. Im derzeitigen Umfeld, in dem sich die Gewinnwarnungen häufen, kommen die Experten, die schon seit Monaten viel zu optimistisch waren, mit ihren Gewinnrevisionen schlicht nicht hinterher.
Für die ausgewiesenen KGVs wird dieses Problem noch fühlbarer, wenn sie auf so genannten Konsensschätzungen beruhen, also Durchschnittswerten aller verfügbaren Schätzungen. Diese Durchschnittswerte haben naturgemäß ein noch größeres Beharrungsvermögen und bieten in Phasen wie dieser keinen Erkenntnisgewinn.
"Flüsterschätzungen" offenbar auch zu hoch Natürlich sind die professionellen Marktteilnehmer gewitzt genug, derzeit nichts mehr auf Konsensschätzungen zu geben. Ihre aktuellen Erwartungen, auch "Flüsterschätzungen" genannt, liegen zweifellos deutlich unter den kursierenden Konsensschätzungen.
Diese Markterwartungen geben letztlich den Ausschlag, ob Bilanz und Ausblick eines Unternehmens die Gnade der Börse finden oder nicht. Wie die derzeitige Kursentwicklung nahelegt, hinken aber offenbar selbst diese Flüsterschätzungen der Realität hinterher.
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