Kaum am Frankfurter Flughafen angekommen, rempelte mich ein deutscher Krawattenschnösel an, Mitte 30 – also etwa 10 Jahre jünger als ich. Entschuldigt hat er sich nicht. Im Duty Free Shop beschwert sich die Verkäuferin, weil ihr Computer den Magnetstreifen meiner M+M-Karte nicht scannen konnte und sie deshalb die Kartennummer per Hand eingeben musste…
Vor ein paar Tagen betrat ich eine Postfiliale um 11:55h. Die Schaltermitarbeiterin mahnte mich sofort, ich solle mich mit meinen Wünschen kurz fassen, da sie ihre Mittagspause in Gefahr sah.
Heute habe ich schließlich mit meinen fast 80 Jahre alten Eltern auf deren Balkon gesessen und von Brasilien erzählt – wir lachten! Plötzlich rief jemand aus der Nachbarschaft, der wohl in diesem Moment auf seinem Balkon im Eigentumswohnungsbau gesessen hat: „Seid nicht so laut hier, Ruhe, leiser!“
All das ist unvorstellbar in Brasilien. Für mich gibt es keinen Zweifel: Brasilien ist für mich wie die Erlösung von einem Übel, dass sich Deutschland nennt. Genauer: Nicht Brasilien sondern die Brasilianer sind die Erlösung!
Ein Volk von Menschen, die in der Mehrheit materiell nicht viel haben, aber doch so liebevoll miteinander umgehen. Man nimmt das Leben wie es ist, klopft sich auf die Schulter, man redet miteinander, im Supermarkt, am Flughafen, in der Post, freut sich über zwischenmenschliche Kontakte. Man toleriert Lachen, toleriert Kinder, spricht mit Kindern. Kinder dürften leben, sie dürfen laut sein, schreien und vor allem lachen! – die Kinder dürfen laut lachen! Brasilianer drehen Musik auf, jeder liebt Musik! Man ist Dienstleister, manchmal ein bisschen langsam, z.B. beim Auslesen von Karten (Kreditkarten im Supermarkt oder M+M). Langsamkeit kann gut sein, ist es so doch möglich, mit dem Kunden ein Small Talk Schwätzchen zu halten. Dann lieber die Kartennummer per Hand eintippen als den Magnetstreifen direkt vom Computer scannen zu lassen, so hat man mehr Zeit für ein Schwätzchen!
Ok, das Problem in Brasilien ist die Sicherheitslage. Ich denke z.B. an Sao Paulo… Dort hatte ich schon eine Pistole an der Schläfe. Dies ist eine Begleiterscheinung in Millionenstädten der Dritten Welt: Relative Häufung von Gewalttaten ausgeübt von Verbrechern!
Ich weiß nichts sicher, ich kann nur interpretieren, was ich beobachte. Aber beobachtet habe ich in Brasilien zumindest noch keinen Schnösselrempler mit Krawatte. Wer mal versehentlich rempelt entschuldigt sich. Aus Respekt vor seinen ebenso freundlichen Mitmenschen. Aber vielleicht manchmal auch aus Angst, dass bestandene Postkorbübungen und Krawatten keinen Eindruck schinden, für den Fall, dass der andere eine Pistole zieht.
In Deutschland gehe ich während meines Urlaubs wieder spazieren, sogar nachts war ich mal draußen. Ich kann mich frei bewegen ohne Sorge vor einem Überfall. Trotz dieser körperlichen Bewegungsfreiheit fühle ich mich in Deutschland wie in Kafkas Prozess, das Buch, das – obgleich für mich nie Schulliteratur gewesen – seit der Abizeit zu meinen Lieblingstexten gehörte. Ich stelle mir gerade vor, wie glücklich man sein muss, wenn man eine große Postkorbübung für sich entscheidet und damit sein Bruttogehalt um 500 Euro monatlich erhöht. Falls man da gut durchkommt, wird man schließlich befördert und darf sich ggf. auch High Potential nennen, Hoffnung auf gutes Arbeitszeugnis 10 Jahre später inbegriffen.
So weit ist Brasilien noch nicht. Aber zumindest die großen Konzerne sind eifrig dabei, solche Themen nach und nach auch in Brasilien einzuführen. Es fehlt jedoch noch an hiesigen Psychologen, die alle erdenklichen Beobachtungsmethoden auswerten können – zum Glück!
Vielen Dinge gehen mir durch den Kopf. Alles aufzuzählen passt nicht im Forum. Doch fällt mir wieder der Club der toten Dichter ein: „Im Wald zwei Wegen boten sich mir dar, und ich nahm den, der weniger betreten war. Und dies änderte mein Leben.”
Und so bin ich sehr erleichtert, dass ich morgen wieder zurück nach Brasilien fliege. |