Aus der FTD vom 18.10.2002 www.ftd.de/deflation
Deflation - Gefährliche Mischung
Von Sebastian Dullien und Mark Schieritz, Berlin
Noch können sich Schnäppchenjäger über purzelnde Preise freuen. Doch die deutsche Wirtschaft droht in die Deflation abzurutschen - mit sinkender Nachfrage und noch mehr Arbeitslosen.
Für Schnäppchenjäger wird es ein heißer Herbst. Supermärkte wollen die Kunden mit Rabatt-Gutscheinen ködern, Versandhäuser verbilligen reihenweise ihre Produkte, und Kaufhäuser wie Karstadt locken mit Preisnachlässen von mehr als 50 Prozent. Die Boulevardpresse macht schon Wochen vor Beginn des Weihnachtsgeschäfts eine "Rabatt-Schlacht" aus, die die kaufmüden Verbraucher wieder in die Läden locken soll.
Doch was die Kunden erfreut, treibt Unternehmern und Managern die Sorgenfalten auf die Stirn. Wenn nämlich auf breiter Front die Preise sinken, warten die Konsumenten lieber ab, verschieben ihre Einkäufe in die Zukunft - und die Firmen kämpfen mit immer größeren Absatzschwierigkeiten.
Auch die Zunft der Ökonomen, die in Deutschland bislang regelmäßig vor einer zu hohen Teuerungsrate warnte, entdeckt jetzt die Gefahr sinkender Preise. "Die Situation ist höchst gefährlich", warnt Ulrich Beckmann von der Deutschen Bank, "Wir beobachten in vielen Bereichen schon deflationäre Tendenzen. Wenn nicht rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen werden, kann das schnell in eine echte Deflation münden."
Japanische Verhältnisse drohen
Die Folgen wären dramatisch, wie das Beispiel Japan zeigt: Dort sinken die Preise bereits 36 Monate in Folge. Die Not leidenden Betriebe können ihre Kredite nicht mehr bedienen, das Bankensystem steht vor dem Kollaps, die Wirtschaft taumelt von einer Rezession in die nächste.
"Es besteht das Risiko, dass sich das japanische Szenario in Deutschland wiederholt", warnt Martin Hüfner, Chefvolkswirt der HypoVereinsbank. Auch hier zu Lande stagnieren die Preise seit Monaten. Zwar weist die Statistik noch einen leichten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr aus. Doch der spiegelt nur die Erhöhung der Tabak-, Öko- und Versicherungssteuer vom Januar 2002 und den Preisschub nach der Euro-Einführung wieder - etwa beim Friseur oder der Kino-Karte. Doch der Teuro-Effekt ist schon Geschichte: "Rechnet man diese Sondereffekte heraus und beachtet den üblichen Messfehler, so gibt es keinen Preisanstieg mehr", sagt Bank-Volkswirt Beckmann.
Bei einzelnen Gütern fallen die Preise schon heute: Haushaltsgeräte und Nahrungsmittel kosten immer weniger. Baumwollhemden, Badeanzüge oder Weichspüler - alles zum Teil deutlich billiger als im Vorjahr.
Nun sind sinkende Preise in einzelnen Branchen nichts Ungewöhnliches. Viele landwirtschaftlichen Produkte kosten heute weniger als vor 40 Jahren - eine Folge des Strukturwandels in der Agrarwirtschaft. Die Preise für Telekommunikation sanken nach der Liberalisierung deutlich. Von einer echten Deflation sprechen Ökonomen erst, wenn über längere Zeit das Preisniveau insgesamt fällt. Genau dazu könnte es aber kommen - die Mixtur aus schlechten Konjunkturaussichten, hohen Zinsen und einer restriktiven Haushaltspolitik ist explosiv.
Preisanhebungen nicht durchsetzbar
Da könnten sich die jüngsten Steuererhöhungs- und Sparbeschlüsse der rot-grünen Koalition als grob fahrlässig erweisen: Allein von 2002 auf 2003 soll das strukturelle Staatsdefizit um 0,8 Prozent zurückgefahren werden - ein gewaltiger negativer Nachfrageschock. Denn schon jetzt weisen die Stimmungsindikatoren nach unten, die schwache Weltkonjunktur lässt die Exporte einbrechen, und die jüngsten Kursverluste an den Aktienmärkten belasten Konsum und Investitionen. Die Ökonomen der Deutschen Bank prognostizieren für 2002 nur noch ein Wirtschaftswachstum von 0,1 Prozent, für die ersten beiden Quartale rechnen sie sogar mit einer Rezession.
"Im Moment lassen sich keine Preiserhöhungen durchsetzen", beschreibt Horst-Werner Maier-Hunke, Geschäftsführer des Büroartikelherstellers Durable, die Lage in vielen Unternehmen. Weil die Lager voll sind und Branchen wie die Telekommunikationsindustrie mit Überkapazitäten kämpfen, werden Waren immer öfter unter dem Einstandspreis verkauft.
So könnte eine Abwärtsspirale in Gang kommen: Wegen der Absatzschwierigkeit entlassen die Firmen Personal oder zahlen niedrigere Löhne. Dadurch sinkt das Einkommen der Konsumenten, die Unternehmen verkaufen noch weniger Produkte und leiten erneut Gehaltskürzungen ein oder setzen noch mehr Mitarbeiter auf die Straße. Die Nachfrage bricht immer weiter ein.
Fallen die Preise, wächst zudem die reale Schuldenlast der Firmen, es kommt zu Pleiten und Kreditausfällen, die den Finanzsektor belasten. "Eine Deflation ist für jedes Bankensystem ein Problem", so HypoVereinsbank-Chefvolkswirt Hüfner.
Löhne noch stabil
Noch hilft der deutschen Wirtschaft, was im Ökonomen-Deutsch gern als "Verkrustung" oder "Rigidität" bemängelt wird: "Der Flächentarifvertrag verhindert bislang, dass die Löhne fallen", so Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger von der Uni Würzburg. Auch der Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), Otmar Issing, hat wegen der geringen Lohnflexibilität der europäischen Wirtschaft bislang wenig Deflationssorgen.
Ob dieser letzte Rettungsanker noch lange hält, ist allerdings fraglich. In Ostdeutschland hat der Flächentarif kaum noch Bedeutung, für den Westen der Republik fordern die Arbeitgeber seit langem die Öffnung der Tarifverträge nach unten. Und längst kompensieren viele Firmen die hohen Tarifabschlüsse vom Frühjahr durch die Kürzung von Sonderleistungen.
Weniger pessimistisch könnte der Blick auf die Geldmenge stimmen: "Noch ist der Zuwachs zu kräftig, als dass eine Deflation direkt bevorstünde", sagt Axel Nitschke, Chefvolkswirt beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Tatsächlich wächst die Geldmenge M3 im Euro-Raum mit Jahresraten von über sieben Prozent, deutlich schneller, als es der Referenzwert der EZB mit 4,5 Prozent vorsieht.
Allerdings steigt auch in Japan die Geldmenge seit Jahren kräftig - dies hat das Land aber nicht vor der Deflation bewahrt. Weil die Banken wegen der faulen Kredite weniger Geld ausleihen, schwächelt die Nachfrage. Die zusätzliche Liquidität kommt nicht im Wirtschaftskreislauf an.
Kreditvergabe rückläufig
Der Würzburger Ökonom Bofinger bezweifelt daher, dass das Geldmengenwachstum der richtige Indikator ist, um Deflationsgefahren vorzeitig auszumachen. Er hält die Kreditvergabe für ein geeigneteres Barometer. Und die ist in Deutschland preisbereinigt seit Februar 2002 rückläufig - schon warnen Experten vor dem Credit Crunch, einer Situation, in der es für Unternehmen immer schwerer wird, Bankkredite zu erhalten.
Um nicht wie Japan in die Abwärtsspirale zu geraten, raten die Deflations-Warner, rechtzeitig gegenzusteuern - bevor es zum Preisverfall auf breiter Front kommt. "Wir haben keine Ahnung, wie man mit einer Deflation fertig wird", so Volkswirt Beckmann von der Deutschen Bank. Darum solle die EZB jetzt lieber das Risiko eingehen, die Inflation zu stark anzuheizen, als die Deflationsgefahr zu ignorieren.
Schließlich mahnt auch die US-Notenbank in einer kürzlich abgeschlossenen Studie über die japanische Deflation eine kräftige Reaktion der Geldpolitik an, bevor die Preise wegrutschen. Sollte es dabei zu neuer Inflation kommen, sei diese viel einfacher in den Griff zu bekommen als die Deflation, so das Ergebnis der Fed-Forscher.
Doch die europäische Geldpolitik scheint den Ratschlägen aus Amerika nicht nachkommen zu wollen: Seit Anfang 2001 hat die EZB trotz wachsender Deflations- und Wachstumsrisiken ihren Leitzins lediglich um 150 Basispunkte gesenkt - während die Fed ihre Zinsen um insgesamt 475 Basispunkte absenkte. Und für Deutschland sieht die Lage besonders düster aus: Gäbe es heute noch die Bundesbank, die nur auf die Preisentwicklung in Deutschland zu achten hätte, läge der Zentralbankzins nach Berechnungen der Société Générale unter zwei Prozent - statt wie derzeit bei 3,25 Prozent.
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Analyse: Weltweiter Preisverfall
Von Sebastian Dullien
Nicht nur in Europa wächst die Angst vor der Deflation. Auch in den USA streiten die Ökonomen, ob die Wirtschaft am Rande eines Preisverfalls auf breiter Front steht. Japan, China und Hongkong stecken schon seit Jahren in einer Deflation, in Taiwan und Singapur sinkt das Preisniveau seit Anfang 2002. "Derzeit ist eine globale Deflation die größte Gefahr für die Weltwirtschaft", warnt Stephen Roach, Chefvolkswirt der US-Investmentbank Morgan Stanley.
Roach sieht die US- Wirtschaft gefährlich nahe an der Null-Marke: Zwar stiegen die Verbraucherpreise noch leicht an, doch die Entwicklung in einzelnen Marktsegmenten zeige die Gefahr einer Deflation in den USA. So fielen die Preise sowohl für Güter als auch für Gebäude bereits mit einer Jahresrate von 0,6 Prozent. Allein das Anziehen der Dienstleistungspreise sorge noch für einen insgesamt minimalen Preisanstieg. Doch auch im Service-Sektor dürften bald keine höheren Preise mehr durchzusetzen sein.
Denn anders als vergangene Rezessionen hat der jüngste Abschwung auch die Inflation im Dienstleistungssektor kräftig gedämpft. Ursache dafür sei die zunehmende Internationalisierung, erklärt Roach: Durch die schwache globale Nachfrage gerieten die Dienstleistungspreise weltweit unter Druck. Die Kunden seien nicht mehr auf wenige nationale Anbieter angewiesen, sondern könnten heute auf Wettbewerber in Schwellenländer wie Indien und China ausweichen. In der Finanzindustrie habe die Deregulierung dazu geführt, dass es mehr Universalbanken und damit größeren Konkurrenzdruck gebe. Ein weiterer Rückgang der globalen Nachfrage werde daher schnell dazu führen, dass auch bei den Dienstleistern eine Abwärtsspirale der Preise in Gang kommt.
Andere Bank-Ökonomen geben sich vorerst noch zuversichtlicher. Selbst bei Morgan Stanley mögen nicht alle Kollegen der pessimistischen Prognose ihres Chef-Volkswirts folgen: Sie weisen darauf hin, dass die Märkte noch lange nicht mit einer Deflation rechnen. So zeigen inflationsgesicherte US-Bonds immer noch eine Inflationserwartung der Anleger von etwa 1,5 Prozent an. Zudem setzen die Optimisten auf die expansive US-Finanz- und Geldpolitik. Damit werde verhindert, dass die Nachfrage einbreche und sich auch in den USA der Abwärtstrend bei den Preisen verfestige. http://www.ftd.de/pw/de/1034763889549.html?nv=5wn |