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Mehr Lohn! von Kilian Kirchgessner (Mlada Boleslav)
Osteuropa verspielt seine Wettbewerbsfähigkeit. Gewerkschaften treiben die Löhne hoch, die Produktivität hinkt hinterher. Die ersten Investoren ziehen bereits in Richtung Osten weiter. Manche wollen gar in die alte Heimat zurück.
Mlada Boleslav putzt sich heraus. Viele der Altstadthäuser neben der mächtigen Burganlage sind eingerüstet, der Marktplatz erstrahlt bereits in neuem Glanz. Seinen Wohlstand verdankt die tschechische Stadt einem Unternehmen: der VW-Tochter Skoda. "Was Sie hier sehen", sagt ein Passant und deutet auf die neuen Fassaden, "das ist alles Skoda-Geld!" Stolz sind sie auf ihr Unternehmen, den größten Exporteur und einen der wichtigsten Arbeitgeber des Landes. "Skodovaci" heißen hier die Skoda-Arbeiter, und das gilt in Mlada Boleslav als Ehrentitel.
Seit drei Wochen entzweit das Vorzeigeunternehmen aber das Land. Mitte April traten die Mitarbeiter von Skoda in einen Warnstreik, um ihre Forderung nach 24 Prozent mehr Lohn durchzusetzen. "Wir wollen uns den Monatseinkommen im VW-Konzern annähern", forderte Betriebsratschef Jaroslav Povsik selbstbewusst. "Unsere Arbeit ist schließlich auch so gut wie die der deutschen Kollegen!"
Tatsächlich steigerte Skoda seinen Vorsteuergewinn 2006 um satte 41 Prozent, die aktuellen Absatzzahlen lassen ein weiteres Rekordjahr erwarten. Das passe einfach nicht mehr mit den Niedriglöhnen der Arbeiter zusammen, verkündeten die Gewerkschaften: Bei 22.000 Kronen liegt der durchschnittliche Bruttolohn der Skoda-Werker, das sind rund 790 Euro.
Skoda-Streik mit Signalwirkung
Nach intensiven Verhandlungen einigten sich beide Seiten bei Skoda auf lediglich 13 Prozent Lohnplus. Aber der Streik hat die Investoren in Osteuropa aufgeschreckt. Denn die Löhne in den neuen EU-Mitgliedsstaaten sind in den vergangenen Jahren deutlich schneller angestiegen als die Produktivität. "Die Länder sind dabei, einen wichtigen Wettbewerbsvorteil zu verlieren", warnt Lars Bosse, Chef der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer in Warschau. Enttäuscht über die steigenden Lohnkosten wenden sich die ersten Investoren den Niedriglohnländern Rumänien und Bulgarien zu. Und manch einer will gar in die alte Heimat Deutschland zurück.
Noch wächst die Wirtschaft zwischen Warschau, Prag und Bratislava in einem atemberaubenden Tempo, um bis zu neun Prozent pro Jahr hat sie in den vergangenen Jahren zugelegt. Den wichtigsten Wachstumsschub bringen ausländische Investoren, die vor allem wegen der niedrigen Arbeitskosten kommen. Wenn die Löhne steigen, wird der Standort unattraktiv. Auf diese Gefahr hat auch der tschechische Präsident Václav Klaus hingewiesen. "Der Streik bei Skoda kann einen Signaleffekt für die ganze tschechische Wirtschaft haben", warnte er.
Analysten tschechischer Banken stimmen dem Staatschef zu. "Lohnerhöhungen sind sinnvoll", sagt Ales Michl von der Raiffeisenbank in Prag, "aber nur in dem Maße, wie auch die Produktivität steigt!" Die Arbeiter bei Skoda tun sich seiner Meinung nach mit ihrer übermäßigen Forderung keinen Gefallen: "Wenn sie heute für höhere Löhne streiken, müssen sie morgen für den Erhalt ihrer Stellen auf die Straße gehen."
Die ersten Opfer gibt es bereits: Der deutsche Tresorbauer Format machte 2005 seine polnische Fabrik dicht und entließ 110 Mitarbeiter. Dafür baute das Unternehmen eine neue Produktionsanlage in Hessisch Lichtenau. "Eine automatisierte Tresorfertigung in Deutschland rechnet sich besser als eine Handfertigung in Polen", sagt Format-Geschäftsführer Michael Keinert.
In der hart umkämpften Werftindustrie verliert der Osten ebenfalls seine Kostenvorteile. So kann die Peene-Werft in Wolgast die vor wenigen Jahren nach Polen ausgelagerte Fertigung langsam wieder zurückholen.
Schwer getroffen haben die steigenden Lohnkosten auch den deutschen Schieder-Konzern. Die Firma mit ihren 11.000 Mitarbeitern bezeichnet sich selbst als größtes Möbelunternehmen Europas. Schieder, das Kunden auf der ganzen Welt hat und auch den Möbelriesen Ikea beliefert, schrammte knapp an der Insolvenz vorbei. Zum Verhängnis wurden dem Unternehmen offenbar die Arbeitskosten in Polen. Die meisten Schränke, Stühle und Kommoden lässt Schieder jenseits von Oder und Neiße zusammenbauen - und dort haben sich die Arbeiterlöhne in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, wie die Statistiker der Europäischen Union berechnet haben.
"Das wirbelt so manche Kalkulation durcheinander", sagt Jan Kurth vom Verband der Deutschen Möbelindustrie (VDM). Dessen Mitgliedsunternehmen sind von den explodierenden Löhnen besonders hart getroffen: Hinter zwei Dritteln der polnischen Möbelproduktion stehen deutsche Unternehmen. "Die haben in den 90er-Jahren dort investiert, als die Lohnkosten noch sehr überschaubar waren", sagt Kurth. Für die meisten war das ein lukratives Geschäft, denn die Möbelindustrie gilt als besonders lohnintensiv. Bei Sitzmöbeln machen die Arbeitskosten leicht 30 Prozent des Endpreises aus.
"Uns war von vornherein klar, dass in Polen die Gehälter auf Dauer steigen", sagt Jan Kurth, "aber dass es so schnell gehen würde, damit haben wir nicht gerechnet." Derzeit denke keine deutsche Möbelfirma über einen Einstieg in Polen nach, heißt es beim Branchenverband. Die aktuellen Ziele der Unternehmen liegen weiter östlich: Bulgarien und Rumänien sind besonders beliebt, immer häufiger fließen die Investitionen aber auch nach Russland und in die Ukraine.
Karawane zieht weiter
"Die Karawane zieht weiter in Richtung Osten", konstatiert Horst Wildemann, Wirtschaftsprofessor an der Technischen Universität München. In einer Studie sagt er voraus: Bis zum Jahr 2010 wird in den osteuropäischen Ländern, die nicht zur EU gehören, mehr als dreimal so viel investiert wie noch 2005. Dieser Zuwachs gehe vor allem auf Kosten Tschechiens, Polens und Ungarns.
"Die Textilindustrie ist von Tschechien und Polen aus schon Anfang der 90er-Jahre weiter ostwärts gewandert", sagt Peter Havlik vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), "diese Bewegung geht jetzt Schritt für Schritt auch auf andere Branchen über." Die neuen EU-Länder müssten künftig mit gut ausgebildeten Leuten punkten und nicht mit dem Preis: "Beim Wettlauf um die niedrigsten Löhne", sagt Havlik, "können sie sowieso nicht mehr lange mithalten."
In die gleiche Kerbe schlägt eine Studie der Managementberatung A.T. Kearney. Die Unterschiede zwischen den klassischen Hochlohn- und Niedriglohnstandorten verringern sich zusehends, heißt es darin.
Die meisten Unternehmen bereiten ihre Verlagerungspläne Richtung Osten hinter verschlossenen Türen vor. "Wenn wir darüber sprechen würden, käme nur Unruhe in die Belegschaft", heißt es bei einem deutschen Autozulieferer in Tschechien. Einer der wenigen, der sich in die Karten schauen lässt, ist der Autozulieferer Leoni. In Ungarn, Tschechien, Polen und in der Slowakei unterhält der Kabel- und Bordnetzhersteller bislang Werke. "Die Kostenentwicklung an diesen Standorten beobachten wir sehr genau", heißt es in der Nürnberger Zentrale des MDax-Unternehmens.
Nach Einschätzung von Branchenkennern hat vor allem das Leoni-Werk in Ungarn einen schweren Stand: Nur noch 800 Mitarbeiter stehen hier auf der Lohnliste, viele Aufgaben erledigen inzwischen die billigeren Kollegen in der Ukraine und in Rumänien. In diesen beiden Ländern arbeiten knapp 8000 Mitarbeiter für die Deutschen, die Fließbandwerker verdienen teilweise nur 70 Cent pro Stunde - ein Zehntel dessen, was die Arbeiter in Ungarn bekommen.
Der Aufschwung ist endlich
Für die Belegschaften in Osteuropa stellt die Auswanderung von Investoren eine neue Erfahrung dar. Bislang zählten sie zu den Gewinnern der Globalisierung: Die Arbeitslosigkeit sank, der Wohlstand breitete sich nicht nur in der Skoda-Stadt Mlada Boleslav aus. Selbst in kleinen Dörfern wurden moderne Fabrikhallen errichtet. Neben Autobahnen und Schnellstraßen sprießen riesige Lager der Logistikunternehmen aus dem Boden. Mehrere Milliarden Euro wurden so in den vergangenen Jahren verbaut. Dass dieser Aufschwung endlich sein könnte, davon haben viele Leute jetzt zum ersten Mal eine Ahnung bekommen.
Der Skoda-Personalchef Martin Jahn, so raunt man sich in tschechischen Gewerkschaftskreisen zu, habe bei den Tarifrunden immer wieder eine Drohkulisse aufgebaut: Die neuen Modelle Joyster und Superb, die bald vom Band laufen sollen, könne Skoda auch in Russland bauen. Schließlich hat der Konzern gerade dort in den vergangenen Jahren massiv investiert - immer mit dem Versprechen, dort werde nur für den russischen Markt produziert.
In Mlada Boleslav ist die gute Stimmung erst einmal verflogen. Alle hier wissen, dass ihr mühsam erarbeiteter Wohlstand nur so lange anhält, wie die Schlote im Skoda-Werk am Stadtrand rauchen. Von der hohen Lohnforderung der Gewerkschaften will niemand mehr etwas hören. Ein älterer Mann winkt nur ab: "Ich glaube, die Jungs haben diesmal ein bisschen übertrieben!"
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Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken. |