(korrigierte Fassung von # 201, u. a. wegen HTML-Fehlern des Ariva-Editors)
Es gebe keine Armut und keinen "Raubtierkapitalismus" in Amerika, phantasiert Transatlantiker Josef Joffe in "Die Zeit":
https://www.zeit.de/2019/04/...ythos-billigjobs-prekariat-gig-economyJoffe wendet sich explizit gegen das "hässliche Wort vom 'Prekariat'", das gerade die Runde mache. Und gegen Horrorvorstellungen, dass sich "bald die alte Arbeitsordnung auflösen würde – zum Nutzen großer, superreicher Unternehmen und zum Schaden kleiner Ich-AG-Dienstleister, die nicht wissen, welche Einnahmequelle sie morgen anzapfen könnten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ein übler Trend scheint sich durchzusetzen..."
Doch in Wahrheit, wähnt Joffe, gebe es diesen fürchterlichen "Raubtierkapitalismus" überhaupt nicht. Joffes Begründung: Gemäß den Zahlen der US-Arbeitsbehörde BLS gingen "über 90 Prozent der Erwerbstätigen einer traditionellen Beschäftigung nach", seien also Festangestellte. Dies sei ein fundierter Gegenbeweis, dass eben nicht "eine Explosion der Selbstbeschäftigung die Arbeitswelt im Sauseschritt umkrempelt".
Holla, Herr Joffe, auch der Frittenbrater bei McDonald oder die Hilfsarbeiterin im Convenient Store für teils unter 8 Dollar die Stunde sind "festangestellt", zählen aber dennoch zum Lohn-Prekariat. Und in solchen Jobs arbeitet ein Großteil der US-Bevölkerung.
Auch von den nackten Zahlen her ist Joffes Argumentation in keinster Weise überzeugend, da sich die von ihm unterstellte Trendumkehr am US-Arbeitsmarkt allenfalls kosmetisch zeigt. Joffe schreibt im Artikel:
"Die Quote der freischaffenden Erwerbstätigkeiten ist seit der "Großen Rezession", die 2007 begann, von 7,4 auf 6,9 Prozent gesunken."A.L: WOW, das sind ja satte 0,5 % weniger in 12 Jahren. Das nenn ich Fortschritt. Diese lächerliche Besserung lässt sich, bereinigt um Statistikrauschen, auch gut mir Null annähern. Tatsächlich ist - hinter den Statistik-Kulissen - die Umverteilung von unten nach oben auch in USA in vollem Gange. Eine Tatsache, die neoliberale Transatlantiker wie Joffe natürlich nicht wahr haben wollen. Daher seine Pseudo-Widerlegung in "Die Zeit".
Auch wenn Joffe es leugnet: Das Prekariat in USA - jene "working poor" mit teils drei Mini-Jobs, die trotzdem nur ein Leben im eigenen Auto als Wohnungsersatz ermöglichen - existiert sehr wohl. Und es wächst sogar entgegen den BLS-Zahlen stetig: Denn in den BLS-Zahlen überhaupt nicht erfasst sind jene Langzeitarbeitslosen, die längst aus der Statistik rausgefallen sind. Die Labor Force Participation Rate (LFPR) in USA ist aktuell mit 63 % auf dem tiefsten Stand seit 40 Jahren - und dürfte Projektionen zufolge (siehe Chart unten) in den nächsten 20 Jahren noch weiter bis 60 % fallen.
Laut Daten der Worldbank...
https://data.worldbank.org/indicator/SL.TLF.CACT.ZSsinkt
auch weltweit die Labor Force Participation Rate stetig! Diese Quote steht für das Verhältnis von "Labor Force" (= Angestellte und offizielle Arbeitslose) zur Gesamtbevölkerung. Liegt sie wie in USA bei 63 %, sind 37 % der Gesamtbevölkerung entweder gar nicht oder in nicht vom Arbeitsamt offiziell erfassten Mini- oder Schwarz-Jobs tätig.
Wer wie Joffe nur mit BLS-Zahlen argumentiert, ignoriert das Elend der vielen oft älteren Hungerlöhnern und Scheinselbständigen, die aus der BLS-Statistik gefallen sind (u. a. weil ihre Arbeitslosenunterstützung auslief).
Der nationalistische Teil dieses US-Prekariats, jene "angry old men" aus dem Mittleren Westen, stellt zugleich die Basis der frustrierten Trump-Wähler, die sich nicht ohne Grund von "make America great again" Besserung erhoffen.
Der Slogan besagt ja sozusagen "offiziell", dass Amerika in Wahrheit nicht wirklich "great" sein kann. Denn sonst bestünde seitens Trump überhaupt kein Handlungsbedarf.
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U.S. Labor Force Participation Rate - und Projektionen bis 2045: